Regelmäßig versammelte Helmut Schmidt Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kunst. Acht von ihnen trafen sich jetzt.
Diesmal ist es wirklich ein bisschen so wie in guten alten Zeiten: Gespräche mit Hintergrund und entspannte Stimmung im Doppelhaus Neubergerweg 80/82 in Langenhorn. So wie es früher war, wenn Helmut Schmidt die Mitglieder der ehrwürdigen Freitagsgesellschaft daheim versammelte und Ehefrau Hannelore mit ihrem positiven Naturell und exzellenter Gastfreundschaft zu einem gelungenen Abend beitrug.
Auch heute, drei Jahre nach seinem und acht Jahre nach ihrem Tod, ist Lachen im Hause Schmidt nicht verboten. Ganz im Gegenteil. Auf Initiative des Hamburger Abendblatts und mit starker Unterstützung der Helmut und Loki Schmidt Stiftung haben sich die Granden vergangener, indes keineswegs vergessener Tage noch einmal im vertrauten Esszimmer versammelt. Bei Kaffee und Keksen wird eine einzigartige Geschichte wieder lebendig – zu Ehren des Hausherrn, Hanseaten und Staatsmanns, der am Sonntag 100 würde.
Acht Ehrengäste, eine Dame und sieben Herren, sind der Einladung zu dieser außerordentlichen und ungewöhnlichen Sitzung der Freitagsgesellschaft gefolgt.
Ein halbes Jahr vor Schmidts Tod wurde die Runde augfgehoben
Es eint der Wille, die Erinnerung an eine Institution erster Klasse wachzuhalten. Nach dem irdischen Ende Helmut Schmidts, da gab es keine zwei Meinungen, fehlten dieser noblen Runde die Gründerinstanz und das Elixier. Alles hat eben seine Zeit, auch die legendäre Freitagsgesellschaft. Mit Ende des Wintersemesters 2014/15 am 15. April 2015, also etwa ein halbes Jahr vor Schmidts Tod, wurde das Thema ad acta gelegt. Jeder der Gäste damals habe „einen Kloß im Hals“ verspürt.
Am Kopfende des Tisches hat heute Manfred Lahnstein Platz genommen. Dort saß einst Loki Schmidt, ihr Ehemann in der Mitte. Lahnstein, der frühere Bundesminister der Finanzen und der Wirtschaft, beging vor wenigen Tagen seinen 81. Geburtstag. Er ist unverändert gut in Form und im kommenden Jahr seit sechs Jahrzehnten SPD-Mitglied. Ihm zur Rechten sitzt, reiner Zufall, der Christdemokrat und ehemalige Bürgerschaftspräsident Martin Willich – mit rotem Pullover. Kleine Zwischenbemerkung: Die meisten Anwesenden sind promoviert oder habilitiert. Der Übersicht halber lassen wir die Titel weg.
Weiter geht’s, entgegen dem Uhrzeigersinn, in lockerer Runde: die Film und Fernsehproduzentin Katharina Trebitsch, der emeritierte Weihbischof Hans-Jochen Jaschke sowie der Maler und Grafiker Klaus Fußmann aus Berlin. Gegenüber haben Helmut Schmidts alter „Leibarzt“, der Kardiologe und langjährige Ordinarius Heiner Greten, sowie das unternehmerische Urgestein Michael Otto Position bezogen. Daneben, als Ottos Nachbarn zur Rechten, Alfons Pawelczyk. Der frühere Innensenator und Zweite Bürgermeister ist mit 85 Jahren der Senior dieser Zusammenkunft.
Die „Lex Langenhorn“: Diskretion war oberstes Gebot
Dezent im Hintergrund halten sich Stefan Herms und Ulfert Kaphengst von der Schmidt-Stiftung, die unverändert aktive Haushälterin, die namentlich nicht genannt werden möchte, sowie Ernst-Otto „Otti“ Heuer, einst Schmidts Leibwächter, Barkeeper und Vertrauensmann in Personalunion.
Zu den Männern der ersten Stunde dieser Freitagsgesellschaft, die Helmut Schmidt gemeinsam mit seinem Freund Peter Schulz, dem einstigen Bürgermeister, ins Leben rief, zählten neben den mittlerweile verstorbenen Siegfried Lenz und Henning Voscherau zwei der heute Anwesenden: Heiner Greten und Martin Willich. Intern hießen diese Gründerväter „Erstsemester“ – weil Schmidt & Schulz die Runde wie einen Studienkreis organisierten. Während des Wintersemesters, und nur dann, tagte man an jedem zweiten Freitag im Monat, mithin sechsmal im Jahr.
Die Lebenslinie von Helmut Schmidt
Von der Gründung 1985 stand ein Grundsatz fest: Diskretion ist oberstes Gebot. Zwar wurden viele der insgesamt 186 Vorträge veröffentlicht; das hinter den Kulissen der schmidtschen Privaträume gesprochene Wort indes blieb vertraulich. Diese „Lex Langenhorn“ wurde strikt beachtet. Das Prinzip wahrhaftiger Verschwiegenheit wurde binnen drei Jahrzehnten nicht gebrochen. Einmal soll einer etwas ausgeplaudert haben. Er wurde nicht wieder eingeladen. Ein Name wird nicht genannt. Ungeschriebenes Gesetz.
Richard von Weizsäcker war einer der Gäste
„Parteipolitik und aktuelle Politik standen nie auf der Tagesordnung“, sagt Manfred Lahnstein während eines fröhlichen, unkonventionellen Gesprächs. „Themen wurden gesammelt und letztlich demokratisch ausgewählt“, erinnert sich Heiner Greten. Wenn keiner aus den eigenen Reihen der unter dem Strich 28 Personen (siehe Liste) der Gesellschaft als Referent geeignet oder ein spezielles Thema gewünscht war, sei ein Profi von außerhalb geladen worden. Beispiele sind der Staatspräsident Indonesiens, die ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und Horst Köhler, der Schweizer Theologe Hans Küng und der Hirnforscher Wolf Singer. Streng genommen zählte auch Loki Schmidt zu diesen externen Referenten.
Die Pädagogin und Botanikerin war Gastgeberin, aber eben nicht Mitglied der Freitagsgesellschaft. Zur weiblichen Minderheit des illustren Kreises gehörten Rolf Liebermanns Witwe Hélène Vida-Liebermann, eine französische Fernsehjournalistin, die Schauspielerin Ursula Lingen, Theo Lingens Tochter, die Psychiaterin Thea Schönfelder, Kultursenatorin Christina Weiss – und eben Katharina Trebitsch.
Die unverändert elanvolle Filmproduzentin schildert die Rituale der Treffen. Kurzform: Klönschnack, Essen, Vortrag, Diskussion, Ausklang. Im Detail sah das so aus: Während Helmut Schmidt mit einem der Gäste (oft dem Referenten) ein Vorgespräch in seinem Arbeitszimmer im Hochparterre führte, trafen die Mitglieder kurz vor 20 Uhr nach und nach ein. Meist erschienen zwischen zwölf und 16 Personen. Nach dem Passieren des Sicherheitskorridors gingen sie durch den Garten und betätigten die Klingel über dem Namensschild mit der Gravur „Schmidt“. Ganz normal. Einige brachten Blumen, ein Buch oder die von beiden Schmidts so geliebten Butterkekse mit. Loki Schmidt nahm die Ankommenden und deren Mäntel in Empfang. Wenn jemand ihren Vorgarten lobte, freute sie sich.
Meist kam deftige Hausmannskost auf den Tisch
Sodann folgte ein Begrüßungsdrink in der Bar, die „Kneipe“ genannt wurde. Chef hinter der Theke war Ernst-Otto Heuer. Das Wirken des pensionierten Kriminalhauptkommissars über mehr als 40 Jahre ist auf Seite 9 in dieser Ausgabe detailliert beschrieben. Sobald das Essen in der Küche nebenan zubereitet war, in der Regel gegen 20.30 Uhr, trat Hannelore Schmidt ins Esszimmer und ließ eine Hupe erklingen. Diese hängt heute in der Bar.
Zumeist kam deftige Hausmannskost auf den Tisch: Grünkohl mit allen Schikanen, Frikadellen mit Rotkohl, Roastbeef mit Bratkartoffeln oder Labskaus. In den Anfangsjahren stand Hausfrau Hannelore selbst am Herd; später wurden die Speisen von einem Caterer des Vertrauens geliefert. „Die Krönung“, verrät Katharina Trebitsch, „war das Dessert.“ Loki Schmidts Rote Grütze wurde ebenso gerühmt wie traditionelle Puddings mit Vanille oder Schokolade.
War diese Leckerei verputzt, bat Helmut Schmidt in den Wohnraum backbords von der Bar. Ein „Notar“ übernahm den Vorsitz. Dieser protokollierte den jeweiligen, maximal 30-minütigen Vortrag akkurat. Das Protokoll wurde den Teilnehmern später schriftlich übersandt. „Helmut Schmidt nahm das Ganze sehr ernst“, hat Hans-Jochen Jaschke in Erinnerung. „Gemeinsames Interesse war es, Neues zu erfahren und im hochkarätigen Kreis auf Topniveau darüber zu diskutieren“, fügt Michael Otto hinzu.
Siegfried Lenz genoss danach immer eine „Bloody Mary“
1999 sowie 2010 ließ Helmut Schmidt einige der Vorträge in Buchform publizieren. „Ihn bewegte eine Menge“, berichtet Heiner Greten, „beispielsweise Astrophysik und Städtebau.“ Der Mentor der Gesellschaft habe alles „begierig aufgesogen und bei der Debatte kluge Fragen gestellt“, blieb Klaus Fußmann im Gedächtnis.
Allerdings sei die erste Frage nach dem Vortrag grundsätzlich nicht von Schmidt erfolgt. Er habe anderen den Vortritt gelassen. „Er war stets exzellent vorbereitet“, ergänzt Katharina Trebitsch. „Er war breit gebildet und konnte zu jedem Thema Fundamentales beitragen“, sagt Michael Otto. „Er verlangte von anderen eine eigenständige Meinung und provozierte gezielt Widerspruch“, sagen die Zeitzeugen unisono. Inhaltliche Auseinandersetzungen gab es durchaus, politischen Streit nur selten. „Beispielsweise Helmut Schmidts Haltung China gegenüber“, erinnert sich Martin Willich. Manchem in der Runde sei sein Verständnis zu weit gegangen. „Schmidt hat an Europa geglaubt wie sonst kaum ein anderer“, ergänzt Fußmann.
Kurz nach 23 Uhr ging dieser gepflegte intellektuelle Gedankenaustausch dem Ende zu. „Später als Mitternacht wurde es eigentlich nie“, weiß Alfons Pawelczyk. Einige verabschiedeten sich nach der Diskussion, andere blieben noch auf einen „Absacker“ an der Bar. Siegfried Lenz genoss gerne eine „Bloody Mary“, einen Wodka mit Tomatensaft. Dabei blieb es fast immer.
„Wir sind grundsätzlich ein Stück schlauer heimgegangen“, bilanziert Martin Willich. „Und eingeräuchert“, ergänzt Heiner Greten augenzwinkernd. Grund war die Raucherecke im Wohnzimmer, in der Zigarren- und Zigarettenraucher Platz nahmen. Am intensivsten, da herrscht Einigkeit, pafften die beiden Gastgeber. Ohnehin hielt Helmut Schmidt nicht viel von einem öffentlichen Rauchverbot – um es vornehm zu formulieren. „Er war der festen Überzeugung, dass ein solches Verbot eines Tages wieder aufgehoben werden würde“, erinnert sich Heiner Greten mit einem Schmunzeln. „Er dachte tatsächlich, er habe ein Gen, das ihn immun gegen Rauchen mache“, fügt Hans-Jochen Jaschke hinzu.
Vortrag von Siegfried Lenz besonders haften geblieben
Nach knapp zwei Stunden löst sich die heutige Tischrunde zu Ehren Helmut Schmidts auf. Zu erzählen gibt es immer noch reichlich. Zum Beispiel von den jährlichen Ausflügen der Freitagsgesellschaft. Mal ging es auf einem Schiff elbabwärts, mal an Bord der Senatsbarkasse durch den Hafen. „Henning Voscherau zeigte uns das Gelände, auf dem zukünftig eine HafenCity entstehen sollte“, berichtet Michael Otto. Schmidt habe diese Vision großartig gefunden. Olympische Spiele in seiner Heimatstadt ebenfalls. Einmal kamen zwei Schauspieler, um im Hause Schmidt ein Kafka-Stück aufzuführen. Eine Szene sollte am geöffneten Wohnzimmerfenster spielen. Die Sicherheitsleute legten Widerspruch ein. Erfolgreich.
In Grüppchen stehen die Gäste im Flur und schwelgen in Erinnerungen. Mit Freude habe man beobachtet, wie Schmidt im gehobenen Alter „immer milder und lässiger“ geworden sei. In den finalen Semestern habe er keine Krawatte mehr getragen. Zu Kanzlerzeiten und direkt danach wäre dies undenkbar gewesen.
Welcher Vortrag ist der Dame und den sieben Herren denn besonders haften geblieben? „Siegfried Lenz über Märchen“, antwortet Manfred Lahnstein. „Es war ein herrlicher Vortrag.“ Die anderen nicken.
Mensch, was waren das für Zeiten.
Die Mitglieder der Freitagsgesellschaft
Klaus Asche Handelskammer-Präses
Justus Frantz Pianist und Dirigent
Klaus Fußmann Maler und Grafiker
Heiner Greten Kardiologe
Hans-Jochen Jaschke Weihbischof
Gerhart Laage Architekt
Manfred Lahnstein Finanz- und Wirtschaftsminister
Siegfried Lenz Schriftsteller
Hélène Vida-Liebermann TV-Journalistin
Ursula Lingen Schauspielerin
Reimar Lüst Astrophysiker
Tyll Necker Präsident Bundesverband der Industrie
Michael Otto Unternehmer
Alfons Pawelczyk Innensenator (SPD)
Wolfgang Peiner Finanzsenator (CDU)
Volker Rühe Verteidigungsminister (CDU)
Helmut Schmidt Bundeskanzler (SPD)
Thea Schönfelder Psychiaterin
Peter Schulz Erster Bürgermeister. Nach dessen Tod sein Sohn Olaf Schulz-Gardyan Jurist
Volker Soergel Physiker
Heinz Spielmann Kunsthistoriker
Katharina Trebitsch Filmproduzentin
Hauke Trinks Physiker
Henning Voscherau Erster Bürgermeister
Max Warburg Bankier
Christina Weiss Kultursenatorin
Martin Willich Bürgerschaftspräsident (CDU)
Da es keine offizielle Mitgliedschaft gab und manche Gäste nur vorübergehend dabei waren, ist diese Auflistung unverbindlich.
Quelle: Archiv Helmut Schmidt