Hamburg. Wenige Menschen waren den Schmidts so vertraut wie Heuer. Als Polizist lebte er mit ihnen im Langenhorner Kanzlerbungalow.
Warum Helmut Schmidt seine Hausbar „Kneipe“ nannte, ist nicht klar. Fest steht, dass er den winzigen, holzverkleideten Raum zwischen Ess- und Wohnzimmer ungemein schätzte – wegen des urgemütlichen Charmes und des Geborgenheitsgefühls. Was junge Leute heutzutage wohl als altbacken oder gar spießig abtun würden, bot früher einen privaten Rahmen für die kleine oder ganz große Weltpolitik.
Genau in der Kneipenmitte, am Regal mit den Gläsern, Flaschenbatterien und Buddelschiffen, hängt an einer Kette ein Metallschild: „Ottis Bar“. Nicht mehr, nicht weniger steht dort. Doch sagen die großen, eingravierten Buchstaben dem Eingeweihten alles. Otti, das ist der Spitzname von Ernst-Otto Heuer, einer Vertrauensperson erster Klasse im Leben der Familie Schmidt. Mehr als 40 Jahre stand der gebürtige Dithmarscher in Diensten des Staatsmanns. Beruflich wie privat, als Leibwächter und als Barkeeper. Das Schild wurde zu Heuers 50. Geburtstag 1990 angeschafft.
Niemand kann diese ganz besondere Geschichte besser erzählen als Otti höchstpersönlich. Und wo? Im Hause Schmidt natürlich, am Neubergerweg in Langenhorn. Zu Lebzeiten seines „Chefs“ war ihm kein einziges Wort zu entlocken, so sehr die Medien auch bohrten. Für eine norddeutsche Eiche wie Ernst-Otto Heuer sind Treue und Vertrauen mehr als nur zwei Wörter. Jetzt jedoch, zum 100. Geburtstag des ehemaligen Kanzlers, darf er Zeugnis ablegen von vergangenen, indes unvergessenen Tagen.
Die Lebenslinie von Helmut Schmidt
1974 wurde Heuer Leibwächter von Schmidt
„Moin!“, sagt der 78-Jährige und drückt kraftvoll die Hand. Er trägt Anzug und Krawatte. Offensichtlich gehört sich das für ihn so. Vor allem verfügt der Kriminalhauptkommissar im Ruhestand der sich selbst augenzwinkernd „Krimsche“ nennt, über ein gewinnendes Wesen. Und über ein vortreffliches Gedächtnis.
Eigentlich wollte der Mann mit Wurzeln in Barlt im Kreis Dithmarschen beruflich zur See fahren, doch entschied er sich 1958 für den Hamburger Polizeidienst. Zwei Jahre später kam der junge Beamte zur Wache 51 in Tonndorf im Nordosten der Hansestadt. 1967 folgten der Wechsel zur Kriminalpolizei und zur Wache 93. Kriminalmeister Heuer verstärkte ein Sicherheitsteam, das sich um den damaligen Innensenator Hans-Ulrich Klose sowie Bürgermeister Peter Schulz kümmerte.
Bis sich zwei Wochen nach der Kanzlerwahl 1974 eine überraschende Chance eröffnete: „Wollen Sie im Team für die Sicherheit des neuen Bundeskanzlers sorgen?“ Trotz der enormen Herausforderung und des zeitweiligen Ortswechsels in die damalige Hauptstadt Bonn gab Heuer spontan sein Jawort. Fortan war er 14 Tage rund um die Uhr im Einsatz, gefolgt von 14 Tagen Freizeit. Und so weiter. Er wohnte fast die Hälfte des Jahres im Kanzlerbungalow im Rheinland. Wand an Wand mit Loki und Helmut Schmidt. Letztlich hatte Hannelore Schmidt die Idee gehabt. „Wir holen uns die vertrauten Profis ran“, riet sie ihrem Helmut. Dieser stimmte zu.
Vier Bodyguards im Hause Schmidt
Der Staatsmann war während der Terrorgefahr des „Deutschen Herbstes“ von „seinen vier Hamburger Jungs“ umgeben: Waldemar Guttmann, Werner Seewald, Günter Warnholz und eben Ernst-Otto Heuer. Man verstand sich, nicht nur wegen des norddeutschen Idioms. Bis auf Guttmann, der inzwischen gestorben ist, erfreuen sich die drei Kameraden guter Gesundheit. Sie halten unverändert Kontakt.
„Also wohnten wir zu viert im Kanzlerbungalow“, erinnert sich Otti Heuer. Das Ehepaar Schmidt plus jeweils zwei persönliche Bodyguards. Die Sicherheitsleute im direkten Umfeld des Kanzlers wurden auswärts von einer unterschiedlich starken Schar des Bundeskriminalamts und der Polizei unterstützt. Im Haus lebte ausschließlich das vertraute Quartett aus Hamburg. Dafür standen zwei jeweils zehn bis zwölf Quadratmeter große Räume zur Verfügung. Sie waren mit Dusche, Schrank, Bett und Telefon zweckmäßig ausgestattet. Gelegentlich, wenn nachts dringende Anrufe aus Brüssel oder Washington ankamen, wählten die Absender den Umweg über Heuer & Co. Ein Kriminalbeamter klopfte dann ans Schlafzimmer des Ehepaars und holte den Hausherrn diskret aus dem Bett.
„Das war ganz normal“, erinnert sich Otti Heuer. Wobei der Bundeskanzler bei ihm und den drei Kollegen das „Hamburger Sie“ wählte: Er nannte seinen Vertrauten Otti, blieb jedoch beim Sie. Bis zum Ende der schmidtschen Amtszeit lief alles wunderbar. Dass Heuer gern rauchte, war für die dienstliche Beziehung keineswegs hinderlich. Loki und Helmut Schmidt wussten, was sie an ihren Leibwächtern hatten. Auch menschlich, auch nach Ausklang der Kanzlerschaft, dann wieder in Hamburg.
Heuer blieb bis 2000 an Schmidts Seite
Um ein buchfüllendes Kapitel deutscher Geschichte auf den Punkt zu bringen: Ernst-Otto Heuer blieb bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2000 an Schmidts Seite. Privat verblieb er dort viele Jahre mehr. Rein dienstlich hielt er Schmidt somit 26 Jahre die Treue. Bei dem Kollegen Werner Seewald waren es sogar 31 Jahre.
Zum Einsatzgebiet der Kripoleute gehörte das Feriendomizil am Brahmsee. Auf dem Grundstück war ein Wachhaus für sie errichtet worden. Als Anhänger des klassischen Schriftverkehrs schätzte Helmut Schmidt Briefe. In einem dieser Schreiben bezeichnete der „preußische Hanseat“ seinen treuen Weggefährten Heuer als „Referenten des Brahmsees“.
Dieser Humor war verbunden mit immenser Wertschätzung. Ehefrau Hannelore teilte sie. So schenkte sie „ihren Jungs“ zum Beispiel Manschettenknöpfe aus handgeschliffenem Glas. Zu Hause bei Ernst-Otto Heuer in Rellingen erinnern persönliche Stücke an einen Job, der Lebensaufgabe war. Darunter befinden sich von Loki angemalte Wandteller.
Und was hat das mit der Bar im Neubergerweg zu tun? Eine Menge. „Otti, können Sie sich bitte auch um den Service in der Kneipe kümmern?“, fragte Schmidt eines Tages. Da Heuer ohnehin als Leibwächter im Haus war, ergab sich diese praktische Lösung. Außerdem musste sich das Ehepaar nicht an ein unbekanntes Gesicht gewöhnen. Bei Otti stand fest, was man hatte. Stichwörter: Vertrauen und Diskretion.
Barkeeper am Neubergerweg
Ergebnis: Otti war doppelt im Einsatz. Als Bodyguard für den Fall des Falles sowie als verschwiegener Barkeeper und gelegentlich als eine Art Kellner bei Feiern im kleinen Kreis. Präsidenten und Minister wie Gerald Ford, Henry Kissinger oder Valéry Giscard d’Estaing ließen sich von der verlässlichen Seele die Gläser füllen. „Das ist Otti Heuer“, pflegte Schmidt bei der Vorstellung zu sagen, „ein persönlicher Freund des Hauses.“ Und ein solcher, darüber verlor Heuer nie ein Wort, wollte für seine privaten Einsätze nicht bezahlt werden. Er blickte auch nicht auf die Uhr. Ehrensache.
Bei der legendären Freitagsgesellschaft, deren Rituale auf Seite 11 dieser Ausgabe beschrieben sind, war „Krimsche“ Heuer ebenfalls von Anfang an zur Stelle – in doppelter Funktion. So servierte er nach dem Grünkohlessen zur Verdauung ein Tablett mit Jubiläums Akvavit. Oder er schenkte Bier aus. Detail am Rande: Im Hause Schmidt gab es kein Hamburger Bier, sondern ausschließlich dänisches Tuborg. Früher war dieses wohl etwas Besonderes.
Mini-Weihnachtsbaum in der „Kneipe“
Helmut Schmidt trank lieber Cola, selten mal mit einem Schuss Whiskey, oder hin und wieder einen Baileys auf Eis. Am besten schmeckte dieser ihm, wenn das Eis gecrashed war. Der Staatsmann hatte Freude daran, wenn Ernst-Otto Heuer das Eis mit einem kräftigen Fausthieb in winzige Partikel zersplitterte.
Ohnehin hatte der große Politiker Spaß an kleinen Dingen. Wie eine Figur des Jazztrompeters Louis Armstrong auf der Theke beweist. Auf Knopfdruck legt „Satchmo“ lustvoll los. Mit diesem originellen Geschenk hatte Tochter Susanne einen Volltreffer gelandet. Wer aufmerksam hinschaut, entdeckt in der „Kneipe“ ebenfalls einen blinkenden Mini-Weihnachtsbaum, eine an einer Feder hüpfende Plastikfigur oder eine winzige Eisenbahn.
Hand aufs Herz, Herr Heuer: Tanzten im Hause Schmidt nachts nicht hin und wieder die Puppen? Wurde an der Theke nicht doch mal mittelschwer zugeschlagen? „Daran kann ich mich nicht erinnern“, entgegnet der Pensionär mit entwaffnetem Blick. Nein, so etwas würde er nicht ausplaudern. Nie im Leben. Und darüber hinaus.