Von JOACHIM MISCHKE

Hamburg - Einige Leichtverletzte, geringer Sachschaden, sieben Verhaftete, verheerende Presse-Resonanz. Was als Ereignis geplant war, ging als Skandal in die bundesrepublikanische Kulturgeschichte ein. Am 9. Dezember 1968, in der Halle B von "Planten un Blomen", wurde beim verpatzten Hamburger Stapellauf vom "Floß der Medusa" das Ansehen eines Komponisten demoliert, weil man um Symbole stritt, während man Weltanschauungen meinte und attackieren wollte - politische wie künstlerische. Das eigentliche Werk, mit viel politischer Verklärung dem Revolutionshelden Che Guevara gewidmet, war dabei zweitrangig. Der vermeintliche Provokateur Henze ist längst ein etablierter Klassiker der Moderne, Werke des neben Stockhausen bekanntesten lebenden deutschen Komponisten werden weltweit aufgeführt, seine 9. Sinfonie beispielsweise hat Ingo Metzmacher mit den Berliner Philharmonikern uraufgeführt. An diesem Sonntag und Montag dirigiert Metzmacher Henzes Oratorium in den Philharmoniker-Konzerten in der Musikhalle. Zu den damaligen Vorgängen mag sich Henze, der am 1. Juli 75 Jahre alt wird, bis heute nicht mehr äußern. Zeit heilt offenbar doch nicht alle Wunden.

1966 hatte Henze bei den Salzburger Festspielen mit seiner Oper "Die Bassariden" einen enormen Publikums- und Kritiker-Erfolg erlebt. Man rief ihn schon zum legitimen Nachfolger Richard Strauss' aus, aber dieses Lob kam von der seiner Meinung nach falschen Seite. Henze sympathisierte mit den Studenten, die gegen politische Verkrustung, Axel Springer und den Vietnam-Krieg protestierten. Prompt regte sich Widerstand aus mehreren Richtungen, denn mittlerweile nahmen auch Avantgarde-Puristen Henzes Stilumschwünge übel. Kein Wunder also, dass die Uraufführung vom "Floß der Medusa", einem NDR-Auftragswerk, dessen Text der frühere NWDR-Intendant Ernst Schnabel geschrieben hatte, mit Spannung erwartet wurde. Am Ende des Werks unterlegte Henze die Textzeile ". . . belehrt von der Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen" mit dem damals allseits bekannten "Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh!"-Rhythmus.

Wochen vor der Premiere erschien im "Spiegel" ein Artikel, der Henzes "Floß" ungehört versenkte und ihn vor seinen radikaleren (Zeit-)Genossen desavouierte: "Sein Floß treibt im Sog der musikalischen Konterrevolution . . . Während sich Nono, Berio und Boulez . . . zur neuesten Musik vortasten, ist Henze der gepflegte Epigone, der geschmäcklerische Eklektizist geblieben . . . Zwei Seelen wohnen in seiner Brust - hie Apo, da Lukullus . . ." Die "Zeit" hatte zuvor sekundiert: "Unser Respekt vor Pfiffikussen, die die kapitalistische Kuh erst richtig melken, ehe sie sie schlachten, hält sich in Grenzen." Studentenführer Rudi Dutschke schrieb dem "Spiegel" zum "Fall Henze" einen "Brief für die Herren der anderen Seite".

Der Abend der Premiere: großer Auftrieb bei "Planten un Blomen". Etliche Prominente und viele Musikkritiker sind anwesend. Auf der Bühne das NDR-Orchester und der NDR-Chor, die Solisten Dietrich Fischer-Dieskau und Edda Moser, Charles Regnier als Sprecher, Henze als Dirigent, der Knabenchor St. Nikolai und der RIAS-Chor aus Berlin. Einige Studenten betreten den Konzertsaal und verteilen Flugblätter. Eine rote Fahne wird ans Dirigentenpult gehängt, dazu ein Che-Poster und ein Plakat mit der Aufschrift "Enteignet die Kulturindustrie". Die Unruhe wächst, der Chor skandiert: "Fahne weg! Wir kommen aus Berlin!" Henze ist irritiert, will den ersten Einsatz geben. Der Chor verlässt die Bühne. Henze geht ab, Fischer-Dieskau ebenfalls. Die Situation eskaliert: Rund 30 Polizisten, von NDR-Mitarbeitern gerufen, marschieren ein. Sie zerren die Protestierenden aus dem Saal. Sechs Studenten und Schnabel werden festgenommen. Henze verlässt den Saal durch einen Hinterausgang. Ludwig Freiherr von Hammerstein-Equord, stellvertretender NDR-Intendant, erklärt die Veranstaltung für beendet, da Henze darauf bestanden habe, nur unter der roten Fahne zu dirigieren.

Schnabel schilderte am 21. Dezember in der "Süddeutschen Zeitung" seine Sicht der Dinge: "Fünf Tage vor der Uraufführung warnte ein Angehöriger einer süddeutschen SDS-Gruppe, der Artikel im ,Spiegel' werde . . . als ein Aufruf verstanden, die Uraufführung zu stören. Diese Warnung habe ich nicht geglaubt, sie erschien mir zu fantastisch . . . Tatsächlich ist aber zwei Stunden vor dem Konzert ein ,Spiegel'-Mitarbeiter beim Hamburger SDS erschienen und hat zur Sabotage aufgefordert. Anwesende, darunter ein Rechtsanwalt, bezeugen es. Ich füge sofort hinzu, daß Rudolf Augstein mir inzwischen erklärt hat, sein Mitarbeiter habe ohne seinen Auftrag, ohne sein Wissen und ohne seine Billigung gehandelt." Zu den tiefer liegenden Ursachen der verhinderten Uraufführung schrieb Schnabel damals: "Natürlich überlege ich mir die Schuldfrage, aber ich kann sie nicht beantworten. Wahrscheinlich gibt es gar keine Antwort. Die Verhältnisse waren nicht danach, das ist es."