dpa/HA Hamburg/München - Oliver Kahn herzte wie wahnsinnig die Eckfahne, Franz Beckenbauer hüpfte wie wild auf der Tribüne, Ottmar Hitzfeld tanzte wie losgelöst auf dem Rasen: Das "Finale furioso" mit Happy End in der Nachspielzeit sorgte bei den sonst so coolen Bayern für eine Eruption der Gefühle. Doch selbst der kurioseste und glücklichste Titelgewinn ihrer Karriere ließ die pflichtbewussten Profis des alten und neuen deutschen Meisters keinen Deut von der Tagesordnung abrücken. Die interne Titelfeier war so trocken wie noch nie und noch vor Mitternacht beendet. "Es ist nicht ausgeartet wie bei sonstigen Meisterfeiern", berichtete Trainer Ottmar Hitzfeld am Sonntag: "Es ist das Problem der heutigen Zeit, das man Erfolge nicht mehr großartig feiern und genießen kann."
Der Ausbruch der Emotionen nach Patrik Anderssons Glücksschuss in der 94. Minute zum 1:1 beim HSV war am Morgen danach schon Geschichte. Mailand, das große Saisonfinale gegen den FC Valencia, rückte wieder in ihre Köpfe - wie auch die Forderung von Bundeskanzler Gerhard Schröder im Namen der deutschen Fußballfans: "Jetzt sollen sie noch eins draufsetzen und am Mittwoch in Mailand auch Champions-League-Sieger werden." Die Bayern müssen allerdings auf Jens Jeremies verzichten. Der Nationalspieler, der auch seine Teilnahme an den WM-Qualifikationsspielen in Finnland (2. Juni) und Albanien (6. Juni) absagen musste, laboriert an einer Entzündung der Oberschenkelmuskulatur.
Dennoch: Der siegreich beendete und mit 230 000 Mark Titelprämie honorierte "Tanz auf der Rasierklinge" (Kahn) war die beste Einstimmung für Mailand. Denn statt des 17. DM-Titels der Clubgeschichte, den Präsident Franz Beckenbauer auf Grund des Niederlagenrekordes (9) als "glücklichsten und dramatischsten" einstufte, hätte es ein Debakel werden können, ein zweites Barcelona, wo der FC Bayern vor zwei Jahren den sicher geglaubten Champions-League-Triumph gegen Manchester United in der Nachspielzeit aus der Hand gab.
"Das war die Meisterschaft der letzten Sekunden", urteilte Trainer Ottmar Hitzfeld, der schnell realisierte, wie knapp man dem Katastrophenszenario entgangen war: "Es hätte ein erneutes Trauma werden können."
So aber wurde es ein Spiegelbild der ganzen Saison. Wie so oft standen Stefan Effenberg & Co auch nach dem 0:1 durch Sergej Barbarez in der 90. Minute mit dem Rücken zur Wand, wie so oft stemmten sie sich vehement und mit Erfolg gegen die Niederlage.
Kein Zufall, so Kahn, sondern ausgleichende Gerechtigkeit für Barcelona. "Der Fußball-Gott hat uns einmal bitterböse bestraft. Jetzt gibt er es uns scheibchenweise zurück", urteilte der Keeper. Von einer zentnerschweren Last befreit, ließ er den Saisonendspurt Revue passieren: "Jedes Spiel in den vergangenen fünf Wochen stand auf des Messers Schneide, jedes Mal hat die Mannschaft einen unglaublichen Willen gezeigt. Diese Mannschaft hat einen wahnsinnigen Charakter, und genau dieser Charakter hat sie zum Meister gemacht".
Symptomatisch für Kahns These war sein Handeln, als der Ball in der 90. Minute im eigenen Netz zappelte. Sofort schoss er das Leder Richtung Mittelkreis, wild gestikulierend trieb er die Kollegen nach vorn, Sammy Kuffour riss er förmlich am Trikot aus seiner Trauer. "Weitermachen, weitermachen", schrie er, und selbst als er nach dem Schlusspfiff Hitzfeld um den Hals fiel, stammelte er immer noch fast wie von Sinnen: "Weitermachen, du musst immer weitermachen."
Freilich. Die Schale wäre wohl länger als nur 4:38 Minuten in Händen der Schalker geblieben, wenn nicht HSV-Ersatztorhüter Mathias Schober mit einem Blackout den Ausgleich eingeleitet hätte. Der 25-jährige Schlussmann, pikanterweise eine Schalker Leihgabe, nahm einen Rückpass (?) von Tomas Ujfalusi mit der Hand auf und Schiedsrichter Markus Merk entschied ohne zu zögern auf indirekten Freistoß für die Bayern.
Andersson, der beim 0:1 das Kopfballduell gegen Torschützenkönig Barbarez verloren hatte, rehabilitierte sich auf süßeste Art und Weise: Mit seinem ersten Bundesliga-Tor für die Bayern, dem wichtigsten seiner Karriere. "Einfach draufgehauen" habe er und den Ball durch Freund und Feind ins Tor "reingepresst".
"Das war sehr wichtig, denn es war die Bestätigung, dass man alles erreichen kann, wenn man daran glaubt", hob Kapitän Effenberg die Entschlossenheit für den Kampf um das zweite Super-Double der Vereinsgeschichte hervor. Kein Verständnis hatte er für jene, die den FC Bayern als "Duselmeister" abstempelten: "Es gibt keine unverdiente Meisterschaft. Es gibt nur eine verdiente Meisterschaft, und wir haben sie verdient."