sch Kuddewörde - Er muss mit den gleichen Unwägbarkeiten kämpfen wie die Musiker, die das Weihnachtsoratorium zu Johann Sebastian Bachs Zeiten aufführten: Saitenrisse kommen häufiger vor, Nachstimmen ist ein ständiges Muss. Denn Joachim Winkel (58) aus Kuddewörde spielt nicht auf einer modernen Bratsche, sondern auf historischen Instrumenten. Wie alle im Barockorchester Schleswig-Holstein, das am kommenden Sonntag nach Lütjensee kommt.
"Bei barocken Streichinstrumenten sind nur die tiefen Saiten mit Silberdraht umsponnen, die dünnen sind ein purer Ziegendarm, während bei modernen Instrumenten mit Aluminium umsponnene Darmkerne verwendet werden", erklärt Joachim Winkel, warum die Saiten so leicht reißen. Der gebürtige Berliner, der an der Musikhochschule Berlin Bratsche und Schulmusik studiert hat, ist das älteste Mitglied des Barockorchesters Schleswig-Holstein, das 1994 von der Hamburger Konzertmeisterin Eva König und dem Neumünsteraner Fagottisten Thomas Rink gegründet wurde.
Das Ensemble tritt meist in der Besetzung drei erste Geigen, drei zweite, ein bis zwei Bratschen, ein Cello, ein Bass, dazu Bläser und Continuo auf. "Wir spielen alle auf alten Instrumenten oder Nachbauten, sind Profis oder Semiprofis", sagt der Kuddewörder. Er wird nach Konzerten immer wieder von Zuhörern
Urtümlichere Töne
angesprochen. "Viele Menschen sind befremdet, weil die Streicher rauer und schöner klingen. Auch die Bläser sind farbiger, die Oboe urtümlicher als die modernen Instrumente", sagt er.
Seine "Eintrittskarte" in das Barockorchester verdankt Joachim Winkel der Großzügigkeit einer Mailänder Millionärin. "1984 bis 1991 war ich Lehrer an der deutschen Schule Mailand und Kantor der dortigen deutschen Gemeinde. Ich gab der Tochter der Dame Geigenunterricht. 1990 überließ sie mir diese Bratsche mit den Worten: Bei Ihnen ist sie besser aufgehoben." Das Instrument trägt im Inneren einen Zettel, der Sebastian Klotz, Mitglied einer berühmten Mittenwalder Bratschenbauerfamilie, als Urheber ausweist, dazu die Jahreszahl 1754. "Sie hat einen besonders ausgeglichenen Klang und eine extrem weiche A-Seite", sagt Winkel, der auch noch eine moderne Bratsche (1850, Werkstatt Vuillaume, Paris) besitzt.
Sein Interesse für alte Musik erwachte schon, als er Schüler war. Winkel: "Ich bin in Kassel aufgewachsen, das damals durch die Musiktage zu einem Mekka für Alte Musik wurde." Gemeinsam mit seinem Vater Hans, einem Chemie-/Biolehrer und begeisterten Hobbygitarristen, besuchte er die Konzerte. "Als Zehnjähriger bekam ich Geigenunterricht, wechselte aber in der zehnten Klasse zur Bratsche: Meine erste kaufte ich für 250 Mark von einem Zigeuner." Der Wechsel hatte anatomische Gründe: "Meine Hände wurden zu kräftig für die Violine." Erst drei Monate vor dem Abitur entschloss er sich zum Musikstudium, paukte auf die Schnelle drei Klavierstücke ein - und hatte nach dem Schulmusikexamen 1964 die freie Stellenwahl.
Joachim Winkel, der seit 1977 mit seiner Frau Marion (60), einer Apothekerin, und den Kindern Sebastian (28), Julia (25) und Anne (20) in Kuddewörde wohnt, wurde Lehrer am Gymnasium Reinbek, wechselte 1991 ans Gymnasium Oldenfelde in Hamburg. In den 70er-Jahren fand er als Bariton zum Hamburger Monteverdichor: "Dessen damaliger Leiter, Jürgen Jürgens, gründete 1974 das historische Barockkammerorchester Camerata academica. Dort wurde ich Bratschist." Bereits 1976 wagte Winkel mit dem Vokalkreis Reinbek, den er seit Jahren leitet, ein Konzert mit alten Instrumenten in der Söderblomkirche Reinbek: "Wir führten Werke von Heinrich Schütz, Claudio Monteverdi, Giovanni Croce und Giovanni Gabrieli auf. Das war meine erste eigene Premiere mit alten Instrumenten."
Mit dem Vokalkreis war der Kuddewörder in den Herbstferien auf einer einwöchigen Konzertreise nach Mailand und Varese. Begeistert ist er zurückgekehrt: "In Mailand hat sich in Sachen Alte Musik viel getan. Besonders gern höre ich ein darauf spezialisiertes Ensemble namens Giardino armonico." Auch in Deutschland sieht der Pädagoge, der neben seinem Beruf noch die Kantorei in Wentorf und die Chorgemeinschaft Ohe (Reinbek) leitet, eine Renaissance der historischen Aufführungspraxis.
Neue Hörbegriffe
Winkel, der wegen der vielen Konzerte derzeit völlig auf sein zweites Hobby, das Handballspiel im TSV Reinbek, verzichten muss, sagt über das Spiel auf historischen Instrumenten: "Mein Verständnis der Werke ist ein anderes geworden. Einige Dinge kann man nur auf Barockinstrumenten so klingen lassen, wie sie von den Komponisten gemeint sind." Durch die Mitarbeit im Barockorchester gewann er neue Hörbegriffe für die "Johannespassion", den "Messias" oder die "Markuspassion". Dafür nimmt er die Mehrausgaben für die historischen Instrumente gern in Kauf und legt klaglos die 120 Mark für den nächsten Bratschensaitensatz auf den Tisch.
Gemeinsam mit der Kantorei Lütjensee führt das Barockorchester Schleswig-Holstein (Leitung Renate Genz) am kommenden Sonntag ab 17 Uhr das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach in der Tymmokirche auf. Die Gesamtleitung hat Barbara Fischer. Zwei historische Bratschen werden zu hören sein: Joachim Winkel spielt die eine, sein Freund Ulrich Spratte (56) aus Hamburg die andere.