Der Hamburger hatte der DDR den Einsatz von Selbstschussanlagen nachgewiesen. Die Stasi lockte ihn in eine Falle. Von heute an stehen in Schwerin drei Männer wegen der tödlichen Schüsse vor Gericht.

Von HANNA-LOTTE MIKUTEIT

Schwerin - Eigentlich hatten die drei Freunde am Abend jenes 30. April 1976 nur eine Leiter aus einem Versteck holen wollen. Von Hamburg aus fuhren Michael Gartenschläger, Lothar Lienicke und Dieter Uebe an die deutsch-deutsche Grenze zwischen dem lauenburgischen Bröthen und Leisterförde im DDR-Bezirk Schwerin. Mit Hilfe von Leiter und Draht wollten sie weiter südlich eine der Selbstschussanlagen SM-70 zünden - um die Heimtücke der DDR-Grenzsicherung zu beweisen.

"Es war unheimlich", erinnert sich Lothar Lienicke (52). Spannungen hätten in der Luft gelegen. Wohl deshalb diskutierten die drei längere Zeit auf der westlichen Seite des Grenzzauns, aber auf DDR-Territorium, was zu tun sei. Schon fast auf dem Rückweg habe Gartenschläger, der in den Wochen zuvor bereits zwei Splitterminen abmontiert hatte, sich plötzlich umgedreht und gesagt: "Das geht doch ganz schnell." Kurz danach zuckten die Mündungsfeuer der Kalaschnikows auf, erinnert sich Lienicke. "Die sehe ich heute noch", sagt er. "Es waren mindestens vier."

Michael Gartenschläger sackte zu Boden, kurz darauf wurde noch einmal auf ihn geschossen. Dass die Todesschützen vor dem Zaun stehen würden, damit hatten die jungen Männer nicht gerechnet. "Wir sind aus Bequemlichkeit nicht weitergefahren", sagt der Hamburger Lienicke heute, "es war eine tödliche Bequemlichkeit." Gartenschläger starb im Alter von 32 Jahren, seine Freunde entkamen unverletzt.

Sein Tod, der als einer der spektakulärsten an der deutsch-deutschen Grenze gilt, sorgte für politische Spannungen zwischen beiden Staaten - geklärt werden konnte er nicht. Erst nach 1989 ermittelte die Berliner Staatsanwaltschaft, dass der Befehl, den "Provokateur" Gartenschläger auszuschalten, von Staatssicherheitschef Erich Mielke höchstpersönlich kam.

Ausgeführt wurde er von einer Spezialeinheit der für "Grenzprovokationen" zuständigen MfS-Hauptabteilung I. 23 Jahre nach der Tat müssen sich von heute an drei der vier damals 20 bis 26 Jahre alten Schützen vor der Jugendstrafkammer des Schweriner Landgericht wegen Totschlags verantworten.

Michael Gartenschläger, ein gelernter Dreher, stammte aus Strausberg in Brandenburg. Schon 1961 war er nach Protesten gegen den Mauerbau verhaftet und zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt worden. 1971 kaufte ihn die Bundesrepublik frei. Er zog nach Hamburg, betätigte sich als Fluchthelfer. Bekannt wurde der fanatische Antikommunist, nachdem er im Frühjahr 1976 zwei der so genannten Todesautomaten am DDR-Grenzzaun abmontiert hatte. Der "Spiegel" berichtete über das System. Und in Berlin beschlossen MfS-Offiziere die "Festnahme beziehungsweise Vernichtung der Täter".

Gartenschläger, der einen dritten Versuch angekündigt hatte, geriet in einen Hinterhalt. Laut Obduktionsbericht trafen ihn neun Kugeln. Ein Brustdurchschuss war tödlich. Anonym, ohne dass seine Angehörigen benachrichtigt wurde, begrub man ihn.

Das Schweriner Landgericht unter Vorsitz von Richter Horst Heydorn soll klären, was kurz nach 22 Uhr in der Nacht zum 1. Mai 1976 am Grenzpfahl 231 geschah. Hauptbelastungszeuge ist einer der vier ehemaligen MfS-Männer. Er sagte aus, er habe ein metallisches Geräusch wie das Entsichern einer Waffe gehört und aus vermeintlicher Nothilfe als Erster geschossen. Kurz danach folgte eine weitere Schussserie. Nur diese wird verhandelt. Weil unklar ist, welcher Schuss tödlich war, lautet die Anklage auf versuchten Totschlag.

Lothar Lienicke sagt, dass der Tote eine Waffe besessen, diese aber nicht gezogen habe. Auch die angeblichen Warnrufe der MfS-Leute habe er nicht gehört. Er wird mit 21 Zeugen und verschiedenen Sachverständigen in der auf zunächst elf Tage terminierten Verhandlung aussagen. Natürlich, sagt er, hoffe er, dass die Angeklagten bestraft würden. "Aber, was will man nach so langer Zeit erwarten?" Im November 1976 hatte Lienicke an der Todesstelle ein schlichtes Holzkreuz aus Eiche aufgestellt. Das steht immer noch.