Von JOACHIM MISCHKE Hamburg - Flotte Spazierstöcke habe er sich gekauft, feixt der 64jährige, und die Reisen nach Umbrien - gutes Essen! - und in die Bretagne - guter Cidre! - seien auch schon fest vorgenommen. Der Ruhestand kann ruhig kommen, "das Leben geht weiter". Michael Naura, Urgestein der Hamburger Jazz-Szene, Pianist, seit 1971 Leiter der NDR-Jazzredaktion und bundesweit als durchaus auch mal kräftig austeilender Jazz-Kolumnist bekannt, macht nicht den Eindruck, als würde ihm vor dem persönlichen Rentenloch nach dem 31. August grausen. Ein erster Vorbote hat sich für heute abend angekündigt: Im NDR-Studio 10 steht eine "Abschiedssinfonie" zu erwarten, das 331. und für Naura letzte NDR-Jazzkonzert.

Auf die Bühne geladen sind unter anderem Albert Mangelsdorff (Posaune), Charlie Mariano (Saxophon) und Wolfgang Dauner (Klavier) - lauter alte Bekannte. Vom 1. September an soll dann Bigband-Redakteur Wolfgang Kunert Nauras Posten und Arbeit mitübernehmen. Eine Ära endet, ein knorriger, angenehm respektloser und rechtschaffen umstrittener Jazz-Guerrillero verlät die Bühne.

Erstaunliche Gelassenheit besänftigt Nauras Rundblick zum Abschied: Daß so mancher NDR-Würdenträger die quotentötende Vokabel "Jazz" treu-teutonisch mit "tz" ausspricht und einen Geschmackshorizont hat, der in etwa bei der Oldtime-Legende Ken Colyer endet ("Gegen den hab' ich übrigens nie was gehabt!", wird energisch und zu Recht nachgeschoben), nun gut, das ist halt "bedauerlich", wenn auch kein neues Dilemma. Daß auch Kollegen aus den Klassik-Ressorts den Jazz eher vom Hörensagen kennen, sei ein anderes "pikantes Problem" im gemeinsam geteilten Minderheiten-Lager. "Es wäre gut, wenn das in Sachen Jazz beim NDR Erreichte nicht verbumfiedelt würde."

Das altbekannte Klagelied über die darbende Hamburger Jazz-Szene und ihren Hang zu Dixieland-Antiquitäten mag Naura allerdings nicht mehr anstimmen: "Ich glaub', da hat sich was geändert. Das betrifft vor allem eine bestimme Generation, die dem Grabe näher ist als wir beide . . .", sinniert er lächelnd bei Tee und Keksen. Obwohl es gerade jetzt in der örtlichen Festival-Szene immer noch alles andere als rosig aussieht: Die Fabrik habe sich vom Jazz verabschiedet, das "WestPort"-Festival allen unbequemen Programm-Ballast über Bord geworfen.

Gut, auch er habe in den vergangenen Jahren den einen oder anderen Fehler begangen: der "verliebten Plinkerei vom Jazz zum Pop" nachzugeben und dem dann die immer knapper werdenden Sendeminuten zu spendieren beispielsweise. "Und einen echten Vorwurf mache ich mir: Um Bill Evans, den von mir angebeteten Pianisten, hab' ich mich zu spät gekümmert. Als wir ihn endlich hier im Funkhaus hatten, war er von den Drogen schon so gezeichnet - das war furchtbar."

Der in der Branche berühmt gewordene Schweinefuß, den Naura - selbst alles andere als ein Schreiber von sanfter Wortwahl - einst einem "Abendblatt"-Rezensenten zuschickte, weil ihm dessen Kritik nicht gefiel, sei eine surrealistische Bestrafung gewesen. Auch zu der Art und Weise, wie er Schmuse-Pianeur Richard Clayderman seinerzeit verbal in den Bühnenboden rammte, steht er nach wie vor voll und ganz.

Andererseits waren da aber auch Momente, die ihm unvergeßlich geblieben sind. Keith Jarrett, in der Hamburgischen Staatsoper, nachts zwischen zwei und drei Uhr, mit "Somewhere over the Rainbow". Reine Melodie, reines Glück war das. Einfach riesig, Mann. Oder die Möglichkeit, Ben Webster und Oscar Peterson für ein Konzert zusammengebracht zu haben. Welche Sprengkraft Free Jazz haben kann, wenn er auf die falschen, tumben Ohren trifft, erfuhr Naura, als während der Live-Übertragung eines Konzerts von Saxophonist Peter Brötzmann eine Bombendrohung einging. Es war keine Bombe im Saal, natürlich, aber abbrechen mußte man dennoch. "Brötzmann ist für gewisse Hörer sozusagen das, was für mich Wagner ist." Ein echter Horror.

Doch derartiger genreübergreifender Brückenbau war immer Nauras Spezialität: Jazz, und Kultur überhaupt, nicht als abgelegene Intellektuellen-Spielwiese zu betrachten, sondern "gerade in dieser Zeit, wo sich alles durchdringt" auch alles in größere gesellschaftliche Zusammenhänge zu stellen. Wer nur von einer Sache etwas versteht, versteht auch davon nichts, heißt es schließlich nicht ohne Grund, und: "Wer nur über Musik nachdenkt, ist ein Idiot."

In der Abschiedsepistel an die Fan-Gemeinde für das heutige Konzert bezeichnet sich Naura pfiffig als "Glöckner vom Notre NDR" - "Ich hab' mir erlaubt, diese Metapher auszusuchen, weil ich immer auf der Seite der Buckligen war und immer sein möchte." Auf die Seite der Reichen, Geschniegelten zieht ihn nichts. "Not my business." Und außerdem: "Jazz war niemals staatstragend und wird auch nie staatstragend sein. Der wird von Persönlichkeiten gespielt. Mit der Unterstreichung von Macht, von der eigenen Herrlichkeit, hat er nichts zu tun." Oder, um es mit den leicht abgewandelten Worten Lafontaines zu sagen: Das echte Jazzer-Herz schlägt links.

Die Frage nach den berühmten "Platten für die Insel" macht Naura kaum Probleme und zeigt gleichzeitig, wie sehr er dem Guten, Alten, Wahren verhaftet ist: Ella Fitzgerald und Louis Armstrong sind dabei; Miles Davis' "Kind Of Blue"; das Keith Jarrett Trio live im New Yorker "Blue Note"; das Carnegie-Hall-Konzert von Benny Goodman. Die fünfte Platte, da sei ihm glatt verziehen, wäre allerdings ein Stück von und mit ihm selbst, "Aurora", Klavier solo, Gregor Gysi gewidmet. "Das ist sozusagen mein anderes Ich."

Und zum Abschied borgt sich Naura seine "famous last words" bei Dichterfreund Peter Rühmkorf: "Vor dir das Meer - hinter dir die Waschmaschine. Diese Entscheidung hast du immer. Du kannst dich für die Freiheit des Meeres entscheiden - oder für den Klapperkasten mit den dreckigen Unterhosen."