Freie Wirtschaft im Westen - im Osten werden die Landwirte nach dem Vorbild sowjetischer Kolchosen in Genossenschaften gezwungen. Zum Beispiel in Deven.

Olga Weger unterschrieb am 17. März 1960. Einen schmucklosen Vordruck, auf dem ordentlich aufgelistet war, was die Siedlerfamilie dem Volkseigenen Erfassungs- und Aufkaufbetrieb für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu übergeben hatte. Zuallererst ging es um elf Hektar Ackerland, danach folgte von eins bis 15 das Inventar: Ein "Brauner, 8 Jahre, Stute tragend" war den staatlichen Eintreibern 900 Mark wert, den "Gummiwagen gut erhalten" veranschlagten sie mit 1500 Mark. Ganz oben auf dem rauhen Papier war handschriftlich vermerkt, um was es ging: "Eintritt in die LPG". "Was hätte ich denn als einzelne tun sollen?" sagt Weger heute und zuckt die Achseln. "Allein hätten wir doch gar nicht bestehen können."

Das kleine mecklenburgische Deven mitten in der Müritz war das geworden, was sich in DDR-Deutsch "vollgenossenschaftliches Dorf" nennen durfte. Noch im selben Monat gab es im gesamten Bezirk Neubrandenburg quasi keinen eigenständigen Bauernhof mehr. Ähnliche Meldungen kamen aus anderen Regionen der elf Jahre alten sozialistischen Republik. Während im westlichen Teil Deutschlands das bittere Ende des "Bauernlegens" beklagt wurde, jubelte im April 1960 die Volkskammer in Berlin, daß "die größte revolutionäre Umwälzung in der Geschichte der deutschen Bauern" vollzogen worden sei. Das war gut ein Jahr vor dem Mauerbau.

Der Bauer als Speerspitze des Klassenkampfes, als nach SED-Definition eigene gesellschaftliche Klasse - in Deven war davon wenig zu spüren. "Wir mußten sehen, wie wir durchkommen", beschreibt Olga Weger, inzwischen 59 Jahre alt, das Leben von damals. Mit Eltern und drei Geschwistern war sie aus Wolhynien (heute Ukraine) geflohen und schließlich 1943 in dem kleinen Gutsdorf unweit Waren gelandet. Etwa dreißig Familien hätten anfangs in dem großen alten Schloß mitten im Ort gewohnt, erinnert sich die resolute Frau mit dem graublonden Haar. "In jedem Zimmer ein Bauer." Der Besitzer, ein Graf Grothe, war im Krieg gefallen, seine Familie in die USA geflohen. Wie überall in der DDR waren Grund und Boden unter sowjetischer Besatzung von 1945 bis 1949 enteignet worden, und dann im Rahmen der Bodenreform an die ehemaligen Landarbeiter und Flüchtlinge verteilt worden.

Auch die Wegers kamen so zu ihrem Ackerland. Doch das Landleben war nicht für alle Siedler das Richtige. Schon Anfang der 50er Jahre gingen zahlreiche Neubauern in den Westen, wo erste Anzeichen für das Erhardsche Wirtschaftswunder spürbar und vor allem sichtbar wurden, andere ließen ihr Land brachliegen. Schon bald wurde auf Geheiß von oben in Deven ein "Örtlicher Landwirtschaftsbetrieb" (ÖLB) gegründet, die ungenutzten Flächen kurzerhand in Volkseigentum überführt. "Es war eine gute Möglichkeit zu arbeiten", sagt Heinz Bodtke, der sich ohne eigenes Land in der Zeit nach dem Krieg mühsam durchgeschlagen hatte.

Und es war der erste, vielfach noch unbemerkte, Schritt zur Kollektivierung nach dem Vorbild sowjetischer Kolchosen. Am 8. März 1958 schlossen sich dann - rechtzeitig zur Frühjahrsaussaat - die Devener ÖLB und vier Bauern, die wegen ihres Alters oder wirtschaftlicher Probleme nicht mehr allein wirtschaften wollten, zusammen: zur ersten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) "8. März" Deven mit 140 Hektar Land. "Das war noch freiwillig", sagt Olga Weger, die von der ersten Stunde an als Bürokraft in dem neuen Betrieb arbeitete.

In den folgenden Jahren traten weitere Siedler ein, bis 1960 der politische Druck zum Zwang wurde. Auch Wegers Lebensgefährte Jürgen Jarchow war bei den letzten, die Genossenschaftsbauern wurden. "Am Anfang war ich gar nicht begeistert", sagt der Sohn des früheren Gutsverwalters. Wie alle anderen mußte er seine acht Hektar Land an die LPG übertragen. "Dafür wurde uns pro Hektar ein Inventarbeitrag von 500 Mark anerkannt", sagt der heute 68jährige. Dazu kamen auch bei ihm Vieh, Ackergerätschaften und das große backsteinerne Verwalterhaus, in dem er und sein Bruder geboren worden waren. "Als einzelner kann man nicht gegen den Strom schwimmen", sagt der drahtige Mann, in dessen Gesicht Wind und Wetter tiefe Spuren hinterlassen haben.

Mit Olga Weger sitzt Jarchow am Eßzimmertisch des mehr als 100 Jahre alten Gutsverwalterhauses. Nach der Auflösung der LPG 1991 können beide wieder, wie im Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik festgeschrieben, über ihr Land verfügen. "Im Grundbuch haben wir ja immer gestanden", sagt Olga Weger. Auch den damals eingezahlten Inventarbeitrag bekamen sie zurück - im Tauschwert zwei zu eins. Olga Weger, die mehr als 30 Jahre die LPG mitaufgebaut hatte - zunächst als Sekretärin, später nach einer Zusatzaussbildung als verantwortliche Buchhalterin - wurde als eine der letzten gekündigt. "Ohne ein Wort des Dankes", sagt sie, und in ihrer Stimme schwingt immer noch Bitterkeit. "Es war ja wirklich so, daß wir die DDR ernährt haben."

Und das vor allem in den ersten Jahren mit Knochenarbeit. Gerade sechs Mark gab es am Anfang für eine Arbeitseinheit, dazu Naturalien. Um überleben zu können, hielten sich die meisten noch eigenes Vieh. "Außerdem mußte jeder zwei Morgen Rüben beackern", erinnert sich Weger, dafür gab es dann einen kleinen Betrag. Dennoch erscheinen ihr diese ersten Jahre der DorfLPG im Rückblick als die besten. "Alles war noch überschaubar." Mit leuchtenden Augen erzählt sie, die nie einer Partei beitrat, von gemeinsamen Erntefesten, auch viel gegenseitiger Hilfe. "Ich bin dann auch schon mal mit in den Kuhstall zum Melken gegangen, damit alle rechtzeitig fertig werden."

Die erste große Veränderung kam 1968. Die LPG Deven mit inzwischen knapp 400 Hektar Ackerland mußte auf staatliches Geheiß mit der weniger wirtschaftlichen NachbarLPG "Sorgenlos" fusionieren. Die Fläche verdoppelte sich, aber auch die Probleme wurden größer. Anfang der 70er Jahren wurde die LPG in Tier- und Pflanzenproduktion geteilt - und wieder mit anderen zusammengelegt.

Während im Westen die Bauernhöfe weiter vor allem Familienbetriebe mit kaum mehr als 30 Hektar Land waren, wurden von Deven aus inzwischen 5000 Hektar bewirtschaftet. "Weite Wege, schlechte Technik und immer mehr staatliche Einflußnahme", schildert Weger die Probleme mit bestimmter Stimme. Und das habe sie auch damals schon so gesehen. "Das bißchen, was wir verdienten, blieb an den Rädern der Traktoren hängen", sagt Weger. Allein um Tierfutter zu transportieren, wären jeden Tag zwanzig Kilometer und mehr gefahren worden. Auch die Genossenschaftsbauern veränderten sich. Hatten in den Anfangsjahren die meisten noch Erfahrung in der Landwirtschaft mitgebracht und auch noch den Bezug zur eigenen Scholle, wurden sie, zumeist sogar LPG-Mitglieder, immer unmotivierter. "Am Sonntag war manchmal im ganzen Kuhstall nur ein einziger Arbeiter", sagt Weger. Irgendwie hielten sie und einige andere den Betrieb am Laufen, ein Jahr lang auch als Vorsitzende. "Aber wir durften die Leute ja nicht rausschmeißen."

Dann, Mitte der 70er Jahre, gab es einen neuen Plan. Drei LPGen Tierproduktion, die nach der Trennung übriggeblieben waren, wurden zusammengelegt. Olga Weger wechselte zu der neugegründeten LPG Tierproduktion "Neuer Weg" ins nahegelegene Groß Gievitz, zusammen mit Ilse-Dore Koch, die stellvertretende LPG-Vorsitzende wurde. Regelmäßig hatte die damalige SED-Funktionärin, die als Zootechnikerin gearbeitet hatte, zum Appell bei der Kreisleitung der Partei in Waren zu erscheinen. "Ihr müßt 3500 Liter Milch bringen pro Kuh im Jahr", habe es dann geheißen, erinnert sich die schwere große Frau. "Wir waren schon froh, daß unsere Kühe bei dem schlechten Futter von der Pflanzenproduktion überhaupt 3200 Liter gaben. Das waren die größten Kommunisten." Doch damit nicht genug der staatlichen Weisungen, die den LPGen immer höhere Kredite aufdrückten. Trotzdem ist Ilse-Dore Koch, heute Kreisgeschäftsführerin der Landfrauen in Waren und bis vor kurzem Bürgermeisterin der Gemeinde Groß Plasten (Müritzkreis), zu der auch Deven gehört, überzeugt, "daß das genossenschaftliche Arbeiten das beste war".

Viele, die ihr Leben in und mit der LPG verbracht haben, denken bis heute so. Auch Olga Weger. "Früher gab es in Deven alles", sagt sie und in ihre Stimme mischt sich Trauer mit Unmut. "Konsum, Post, Gaststätte, und wenn es geschneit hat, sind unsere Leute zum Winterdienst rausgefahren." Auch die Ställe hätten ordentlich ausgesehen.

Jetzt gibt es noch eine Telefonzelle und einen Zigarettenautomaten. Das stattliche Gutshaus, einst Verwaltungssitz der Bauerngenossenschaft, ist in frischem Gelb gestrichen und dient heute zwei Berlinern als Zweitwohnung. "Deven ist ausgestorben", sagt Olga Weger. "Daß das mit der LPG mal so sang- und klanglos enden würde, hätte ich nie für möglich gehalten." 1991 meldete die LPG Groß Gievitz, zuletzt mit 1000 Rindern und 5000 Schweinen, Liquidation an. Die Nachbar-LPGen waren bereits in Auflösung. "Wir waren den Bauern im Westen ein Dorn im Auge", meint Weger bitter.

Schnell hatten sich einige junge Landwirte, zumeist führende Mitarbeiter der umliegenden LPGen, gefunden, die sich auf dem ehemaligen Genossenschaftsland niederließen. Sie pachteten es von der Treuhandanstalt oder von Siedlern und fingen an zu wirtschaften. "Ich habe mich damals nicht getraut", sagt Ilse-Dore Koch, die selbst aus einer alten Bauernfamilie stammt. "Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen, daß man alle Technik und auch alles andere kaufen können würde."

Dabei wollte die Flächen der ehemaligen LPG Deven zunächst niemand haben. Doch dann, im Spätsommer 1991, entschloß Peter Ruckick, "sich privat zu machen". Der studierte Agaringenieur aus dem Nachbarort Kargow, der bereits einige Jahre als Bereichsleiter in einer LPG gearbeitet hatte, pachtete knapp 700 Hektar Land, davon gut die Hälfte von insgesamt 36 Siedlern - und fing an. Nach althergebrachter Weise: "Tier- und Pflanzenproduktion gehören zusammen", sagt der große schwere Mann, auch von genossenschaftlichem Arbeiten will er nichts wissen. "Ich entscheide lieber allein."

Mehr als 100 Milchkühe hat er im Stall, dazu einige Schweine, Pferde und Geflügel. Im Jahr produziert Ruckick 60 Doppelzentner Getreide pro Hektar und 6500 Liter Milch pro Kuh und Jahr. "Das ist das Doppelte als zu LPG -Zeiten", weiß der Neubauer. Statt zwölf Arbeiter schaffen bei ihm jetzt drei. Demnächst will er die Hälfte seiner Pachtflächen von der Treuhandnachfolgerin kaufen. "Ich muß im Grundbuch stehen", sagt er. "Nach all den Jahren, in denen Eigentum nicht sein sollte, ist es jetzt Voraussetzung für alles." Deshalb ist er auch froh, daß sein Sohn, der in der Landwirtschaft gelernt hat, mit einsteigen will. "Das ist wichtig für die Emotionen", sagt Peter Ruckick. "Auf der LPG hat das früher gefehlt."

"Die größte revolutionäre Umwälzung in der Geschichte der deutschen Bauern ist vollzogen" Volkskammer, April 1960