Kiew - Das Urteil war klar und läßt keine Berufung zu. Schließlich war dieser Richter am nächsten dran. Daniel van de Wiele, belgischer Ringreferee für Profiboxkämpfe, verbreitete seine Erkenntnis über den jäh gestoppten Aufstieg der Klitschko-Brüder so: "Erfahrung kann man nicht kaufen."
Auf der Hatz nach Titel, Ruhm und Millionen-Börsen einer mit Gewalt nach oben gebogenen Profikarriere wurde der Amateur-Olympiasieger Wladimir Klitschko (22) in seiner ukrainischen Heimat kalt erwischt. Der unbekannte, aber in jetzt 38 Kämpfen erfahrene US-Amerikaner Ross Puritty (31) fügte dem WBC International Champion in der elften Runde eines dramatischen Kampfes einen technischen K.o. zu. Für 10 500 Zuschauer beim ersten Profiabend im ausverkauften Kiewer Sportpalast konnte die Enttäuschung nicht größer sein.
Klitschko zollte seiner Nervosität und Unbeherrschtheit Tribut: Er mußte ins Krankenhaus eingeliefert werden, das er nach eingehender Untersuchung noch am Kampfabend wieder verließ. "Es gibt keinen Befund", sagte der Arzt und Präsident des Bundes Deutscher Berufsboxer, Bodo Eckmann. "Er ist nur psychisch schwer angeschlagen."
Das war auch sein Bruder Witali (27). Zwar verteidigte der reifere der beiden seinen Europameistertitel durch technischen K.o. nach 1:49 Minuten der ersten Runde gegen den italienischen Meister Francesco Spinelli. Doch das beschäftigte den angehenden Doktor der Sportwissenschaft wenig: "Ich habe nicht geboxt, ich habe nur geschlagen und wollte fertig werden, um zu meinem Bruder zu kommen." Witali wirkte danach wie gelähmt durch den K.o. seines Bruders. Wladimir sagte: "Diese Niederlage ist nicht gerade angenehm für mich. Aber das war keine Weltmeisterschaft. Ich bin optinistisch, daß ich eine WM-Chance bekommen werde."
Eine katergleiche Niedergeschlagenheit hatte sich der Manager und Trainer bemächtigt. Promoter Klaus.Peter Kohl sagte: "Das schlimmste ist, daß Wladimir in seiner Heimat verloren hat. Ich glaube und hoffe, daß er jetzt vieles gelernt hat. Er bleibt das größte Schwergewichts-Talent der Welt. Mit 22 ist er wie ein Baby, er wird Weltmeister."
Doch die Pläne wandern zunächst in den Schrank der geborgten Illusionen zurück. Das Management muß sich vorwerfen lassen, an die selbst verbreiteten und allgemeingültigen Gesetze des Business nicht geglaubt zu haben. "Langsam" sollte der Aufbau beginnen, im Schwergewicht sei ja alles möglich. Da wurde Wladimir Klitschko nach dem letzten, ihm aufgedrückten Duell gegen Donnell Wingfield am 14. November in München vorgeworfen, er zerstöre seine hoffnungslos unterlegenen Gegner. Von "Fallobst" war die Rede. Bloß hatte Wingfield einen besseren Kampfrekord als sein Landsmann Puritty.
Wladimir Klitschko nahm in seinen zwei Profijahren die Last von nunmehr 25 Kämpfen auf sich, das heißt einen Fight pro Monat. Jetzt mußte er zum erstenmal über acht Runden im Ring stehen.
"Das war eine Schallmauer für ihn", sagte Weltmeister-Trainer Fritz Sdunek. Wladimir, der trotz großer Überlegenheit in Runde zehn zu Boden ging und nur vom Gong gerettet wurde, sei in der Pause zur elften Runde ansprechbar gewesen. Nach 18 Sekunden des nächsten Durchgangs war Sdunek jedoch in Verzweiflungsmanier in den Ring gestürmt und hatte das erwartbare "Abschlachten" beendet. "Wir mußten aufgeben", so Sdunek. "Ich wollte schlimme Verletzungen vermeiden. Wladimir hat fast jede Runde gewonnen. Er ist daran zerbrochen, daß Puritty nicht gefallen ist, obwohl er ihn so oft und hart getroffen hat."
Arg verbeult, aber sprachlich frisch wie ein Springauf gab sich der Amerikaner nach seinem unerwarteten Sieg: "Wladimir hat mich fünf-, sechsmal unglaublich hart getroffen. Außerdem hat er den besten Jab, den ich je gesehen habe." Für Puritty war es der 24. Sieg bei 13 Niederlagen und einem Unentschieden.
Der Vater von vier Kindern aus Noble/Oklahoma und studierte Marketingexperte war erst eine Woche vor dem Kampf verpflichtet worden. "Ich hab das Ticket gekriegt und bin hergeflogen. Ich liebe es, zu kämpfen." In Kiew war er gesehen worden, wie er bei minus vier Grad im T-Shirt Runden um sein Hotel drehte. "Ich trainiere dreimal die Woche, gebe aber Kindern Boxunterricht, also bin ich in Form."
Eine Revanche, kündigte der mit einigen tausend Dollar und den Spesen abgespeiste Puritty an, gebe er gerne. Nur in der kommenden Woche sei es ungünstig: "Ich nehme ein paar Aspirin und ruhe mich aus."