Variete in Hamburg hat seit knapp einem Jahrhundert Maßstäbe für gute Unterhaltung gesetzt. Dazu gehören Spitzenartistik und amüsante Tierdressuren sowie ein aufgeschlossenes Publikum quer durch die Generationen. Treffpunkt der guten Laune ist noch heute das weltberühmte Hansa-Theater am Steindamm 17 in St. Georg. Seit 94 Jahren lachten dort über 34 Millionen Menschen und vergaßen dabei ihre Alltagssorgen.
Ein Artisten-Wirbel, der nie in dieser Form im Fernsehen gezeigt wird, fasziniert gerade heute viele treue Besucher. Sie erleben internationale Künstler hautnah. Atemberaubend und rätselhaft, wie die hübsche Fellcity Prout aus England
auf dem einzigen "Füegenden Teppich" der Welt sitzt. Sie und ihr Mann David treten während des Oktober-Programms unter dem Künstlernamen Emerson & Jayne im Hansa-Theater auf. Wer mehr über die bunte Welt der Varietes im Wandel der Zeit in Hamburg, Berlln, Köln und Stuttgart wissen möchte, findet Wissenswertes und Unterhaltendes im gerade erschienenen Buch "Variete", das "gutgelaunt durchs Wirtschaftswunder" führt, wie der Hamburger Buchautor und Dramaturg Dr. phll Rainer Berg schreibt. "Variete" ist im Fackelträger- Verlag erschienen und kostet im BuchHaftdel 44 Mark.
Bummeln Sie mit durch die bunte GUtzerwelt? Dann hinein in Hamburgs einzig verbllebenes Variete, das Hansa-Theater. Terrassenförmig angeordnete Tische mit beigefarbenen Lampen; freundllche Platzanweiserinnen mit Häubchen aus der Jahrhundertwende geleiten die Gäste zu ihren Tischen vor der Bühne.
Das Oktoberprogramm ist faszinierend: Sie lachen Tränen über Ariela & Co. Arielas Compagnon hat Probleme mit den Rollschuhen. Der Künstler schleudert, stolpert, fäUt, und bricht sich doch nicht den Hals. Lyne Barel aus Frankreich geigt einen wüden Csardas, als hätte sie Paprika im Blut. Sir Benny zaubert - natürllch -
das erste Kaninchen aus der Federboa, das zweite aus seidenen Tüchern. Tusch! Dann die fünf Bertis. Sie haben alles, um eine nervige Rad-Darbietung brillant präsentieren zu können.
Dann wird es stül. Otto Bertis balanciert auf Dolch und Degen kostbare Gläser. Den Dolchgriff hält er mit den Zähnen. Atemberaubend! Die Cardys aus Leipzig verblüffen mit Kondition. Gunter hängt mit den Zähnen an einer Seüvornchtung, Partnerin Andrea "schwebt" auf seinen Füßen. Einen Keulenwirbel Uefern sich die Carvey Jugglers aus der "DDR", Jayne geht mit dem FUegenden Teppich bis unter die Decke des Hansa-Theaters, die Kröplin Sisters führen ihre putzmunteren Pudel mit allerlei Gags vor. Fürs Auge und Ohr ist die akrobatisch-tänzerische Darbietung der Australler EUzabeth und Steve Lizsteve. Spaniens temperamentvolle Folklore wird im Oktober-Programm des Hansa-Theaters von Los Maturanas eindrucksvöU interpretiert. Verblüffend, wie Fred Rops Extrablätter, also Zeitungsseiten, zerreißt, wieder ganz macht und plötzllch fransige Palmen aus den Zeitungsseiten zaubert.
Die Inhaberin des Hansa-Theaters am Steindamm 17, Telse Grell, sucht sich die Artisten selbst aus. AUe großen Häuser Skandinaviens bis Spanien sind ihre Reiseziele.
Wie war es in der Nachkriegszeit? Vom Reisen der Artisten von Stadt zu Stadt durchs Trümmer-Deutschland erzählt Dr. Rainer Berg in seinem Buch "Variete". Im Mittelpunkt steht die Geschichte des Hansa-Theaters.
Paul Wilhelm Grell, ein Bierbrauer aus Heide in Holstein, wollte in der Weltstadt Hamburg sein "Heide"-Bier populär machen. Wie machte er's? Er gründete am 5. März 1894 am Steindamm in St. Georg das "Hansa-Theater". Dort machte er jene Artistinnen salonfähig, die bisher nur unter Zirkuszelten in der Hansestadt auftraten. Dort sich die leichtgeschürzten Damen anzusehen, galt unter Hamburgs Geschäftsleuten nicht als "fein". Also gingen sie ins "Hansa".
Hamburg hatte im September 1898 seine Sensation im Hansa-Theater. Die schönste Frau der Welt, die Ballett-Tänzerin Cleo de Merode, trat für die Tagesgage von 16 000 Goldmark (!) im Hansa- Theater auf. Im selben Jahr war sie in Paris zur "Miß Universum" gewählt worden. Die bildhübsche Frau mit den sanften Augen war 1894, vor ihrem Hamburg- Debüt, die Gellebte des belgischen Königs Leopold II.
Wer trat nicht alles in der 94jährigen Geschichte des Hansa-Theaters auf der Bühne auf?! Die Clowns Grock, Charlle Rivel und Noni. Bejubelt auch die Bananen-Tänzerin Josephine Baker, der Humorist Otto Reutter, das Gleichgewichts- Genie Enrico Rastelll.
Ein 22jähriger blonder Hamburger kam auf der Bühne des Hansa-Theaters, damals noch mit 1500 Plätzen! ganz groß 'raus: Hans Albers. Das war 1914. Er hatte nur in einer Szene eine Nebenrolle. Aber
die haute hin.
Dann der Krieg. Vom 24. auf den 25. Jull 1943 zertrümmerte ein Bombenvolltreffer das inzwischen weltberühmte Hansa- Theater. "Aus den Trümmern der Bühne, der Pferde- und ElefantenstäUe wurde das heutige Haus gebaut", erzählt Hansa- Pressechef Helmut Kalkowski. 491 Sitze hat heute das Hansa-Theater. Im August 1945 öffnete das kleine Hansa-Theater wieder die Türen.
Auf Seite 36 im seinem Buch Variete beschreibt Autor Berg die Love-Story der Nachkriegszeit am Steindamm. Caterina Valente, Sängerin und Tänzerin, erinnert sich: "1951 war für mich ein tolles Jahr. Ich wurde 20, und es passierte etwas, womit ich nicht mehr gerechnet hatte: Ich verüebte mich ganz heftig. Es war in Hamburg im Hansa-Theater."
Verllebt ins Variete waren damals viele Hamburger, wie im Buch von Dr. Berg nachzulesen ist. Unvergessen die Geschichte und der Untergang des "Haus Vaterland" an der Ecke Ballindamm. 1919 war Variete-Eröffnung. 1964 senkte sich endgültig der Variete- Vorhang, 1972 kam das Aus auch für den gastronomischen Betrieb und für die Gesangs- und Musikdarbietungen des "Fröhlichen Weinberg". Das Publlkum blieb weg, denn unter der Binnenalster rumorte es. Die Station Jungfernstieg war im Bau.
Buch- Autor Rainer Berg erinnert natür- Uch auch ans "AUotria" auf der Reeperbahn, das nach dem Zweiten Weltkrieg Riesenzulauf hatte. Clown Polo Rivel, seit elf Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen, sagte nach seinem ersten AUotria- Auftritt: "Nun bin ich endllch wieder in Hamburg!" Sylvester 1958/1959 gingen im AUotria endgültig die Lichter aus. Wenige Jahre zuvor, 1953, war ein Mehrzwecktheater für Revue, Operette und Variete-Programme entstanden: das Operettenhaus. Heute hat es sich mit "Cats" in den BUckpunkt der Öffentllchkeit gespielt.
Das Fernsehen schadete in der Nachkriegszeit vielen guten Varietes in der Bundesrepubllk. Das Überleben wurde immer mühsamer, weü das Publlkum zu Hause blieb.
Nur das Hansa-Theater hält bis heute in Hamburg durch. Jetzt interessieren sich wieder Jugendllche fürs Variete, kommen auch als Praktikanten. Und wie sieht es anderenorts aus? In Stuttgart arbeitet seit acht Jahren mit Erfolg das Variete-Theater am Killesberg. Seit dem 3. September 1988 unterhalten Jongleure und supergelenkige "Kautschuk"-Damen das Publikum im Frankfurter "Tiger"-Palast. Eine Variete-Stätte mit Tradition! Berlln bietet in der "Urania" Variete-Nachmittage für Senioren, Ost-Berlin bietet Artisten im großen Friedrichstadt-Palast Auftrittsmögllchkeiten. Die bunten Lichter der Varietes - sie leuchten wieder heller. Fernsehen ist nicht mehr alles.
Der freischaffende Variete-Regisseur Hans Krüger geriet im Januar 1957 ins Schwärmen und sagte einen wundervollen Satz, den Dr. Rainer Berg in seinem Buch "Variete" als mutmachenden Schluß wiedergibt:
"Variete - ist das nicht ein bezauberndes, ein betörendes Wort? Schließe einmal deine Augen und sprich es vor dich hin sinnverwirrende, atemberaubende Atmosphäre voller Nervenkitzel, ausgelöst durch das eine Wort!"