An der Hamburgischen Staatsoper hatte als letzte große Neuinszenierung der Intendanz Rolf Liebermann Wagners Oper "Tristan und Isolde" Premiere. Es wurde ein grandioser Erfolg für die Sänger, den Dirigenten und das Orchester; an der Interpretation der Ostberlinerin Regisseurin Ruth Berghaus schieden sich dagegen die Geister - sie holte sich ebenso hysterische Buhs wie enthusiastische Bravorufe.

Wenn Ruth Berghaus Regie führt, spielt sie "Ich sehe 'was, das du nicht siehst". Sie hat ihren Wagner gelesen und beim Wort genommen wie kaum ein anderer, und Schopenhauer dazu und alles, was sonst noch paßt. Der Zuschauer, an solch profane Deutun-

Der Beginn des Vorspiels. Der "Tristan"-Akkord ist der berühmteste Akkord der Musikgeschichte - er gilt als

Schlüssel zur modernen Musik gen gewohnt wie an Tag- und Nacht- Gegensätze und andere Symbolik, hat es mitunter nicht eben leicht, den Sinn in den vielen Bildern und Gleichnissen auszumachen, die ihm da geboten werden. Aber Frau Berghaus fordert permanent zum Mitdenken auf, sie lullt nicht ein.

Bei ihrem "Tristan" ist immer Nacht. Das Bühnenbild von Hans-Dieter Schaal räumt ebenfalls mit allem auf, was man bisher gewohnt ist: Im ersten Akt ein (Alpt)raumschiff mit Liegestühlen vor einer großen Turbine, die auch als Kulisse den zweiten Akt beherrscht. Der Mond wandert von einer Bühnenseite zur anderen - im dritten Akt ist dieser Mond mit Captain Tristans Raumschiff kollidiert, es ist Endzeit im All.

Wie die Menschen in diesem Endspiel agieren müssen, ist teils akrobatisch, teils grotesk. Der Hirt im letzten Bild seilt sich auf und ab, und im ersten Akt treiben die als Feuerwehrleute verkleideten Ritter und Knappen auf dem Vorschiff Gymnastik mit ganz banalen Liegestühlen. Sie kriechen auf, unter, hinter, über, vor und zwischen die Klappdinger, und zuletzt setzen sie sich sogar darauf wie unsereiner. Als Animateusen fungieren dabei sowohl Isolde als auch Brangäne. Aber inwiefern dies der Wahrheitsfindung dient, wurde mir nicht ganz klar.

In der "Staatsoper"-Zeitung gibt es einige Schlüssel zur Berghaus'schen Interpretation; dort hat sie einige Wörter aus Wagner-Zitaten gesperrt drukken lassen und ihnen damit ein Schwergewicht verüehen: "Schrei", "Klage", "Zerstörungsakt", "Selbstvernichtung" und "ungemessene Räume" gehören dazu. Von "Liebe" allerdings keine Spur. Zusammen mit den BUdern des Surrealisten Edgar Ende im Programmheft wird dem unvoreingenommenen Zuschauer damit mehr HUfe gegeben als etwa mit Sätzen wie "Die Mannigfaltigkeit des Logos, verschlüsselt in der Monade des Erfindungskems, emaniert in das Werk, dessen Gestaltenreichtum auf den einen ,Ton' des Erfindungskems bezogen und noch in den scheinbar entfer^jg^j sten Manifestationen auf ihn eingestimmt bleibt", der sich ebenfalls im Programmheft findet.

Ein Dreigestirn großer Stimmen

Im AU, diesen ungemessenen Räumen, wird geschrieen, geklagt, zerstört, selbstvernichtet, doch nicht geliebt. Die Rezeptur des Liebestranks muß nicht ganz richtig gemischt worden sein; Tristan und Isolde, dieses berühmteste Liebespaar der Opernliteratur, blicken sich kaum an - und küssen sich nur einmal, als Schatten im zweiten Akt. Tristans "Ich Isolde, nicht mehr Tristan" und Isoldes "Tristan ich, nicht mehr Isolde" wird zu einem Freud'schen Who is who dieser Produktion.

Tristan hat im letzten Akt die Unterarme verbunden, als habe er sich die Pulsadern aufgeschnitten - er hatte sich voller Todessehnsucht förmllch in Melots Schwert gestürzt.

Isolde ist in diesem mythischen Drama eine Königin der Nacht, die nur einmal das Rad der Geschichte aufhalten will - dies überdeutllch in der Turbine, in die hinein sie mit Tristan "O sink hernieder, Nacht der Liebe" singt. Sie wirkt wie ein weibllcher Charon, jener von Erebos, dem Dunkel, und der Nyx (Nacht) gezeugte Fährmann aus der griechischen Mythologie, der ihren Geliebten über den Styx heim ins Reich der Toten rudert - der Kahn, und sei er noch so klein, hat eine übergroße symbolische Bedeutung in dieser Inszenierung.

Mit den Sängern hat Hamburg eine Besetzung gefunden, die sich auch in Bayreuth hören lassen könnte: Gabriele Schnaut und WUliam Johns in den Titelrollen haben alle Kraft, Ausdauer und auch Schmelz, die für ihre schwierigen Partien erforderlich sind. Ihr Duett im zweiten, Tristans Fieber-Monolog im dritten Akt hatten jene Weltklasse, die Intendant Rolf Liebermann immer wieder für sein Haus an der Dammtorstraße beansprucht. Hanna Schwarz als Brangäne, präsent vom ersten Ton an in Spiel und Gesang, vollendete aufs feinste dieses Dreigestirn großer Wagner-Stimmen.

Harald Stamm (König Marke), Hermann Becht (Kurwenal) und Heinz Kruse (Melot, junger Seemann) ergänzten gleichwertig dieses Ensemble. Eine Meisterleistung vollbrachten die von Zoltan Pesko geleiteten Philharmoniker. Sie spielten in kleiner Besetzung (sechs Kontrabässe) und reagierten höchst sensibel auf die zurückhaltende, dadurch aber äußerst klangfarbige Begleitung des Maestro, der einmal mehr bewies, daß "Tristan und Isolde" eine leise Oper ist. Empfehlung: Nicht Augen zu und Ohren auf, sondern Buch lesen und noch einmal hingehen! HELMUT SÖRING