j4,Die Männer trugen gemeinspgn den Leichnam nach drau- ßen und betteten ihn in den Sarg, der schräg auf den Stufen zur Diele stand. Hier faltete man der Toten sorgsam die Hände und kämmte ihr das Haar. Der älteste der Männer, Hans-Jürgen M., wollte gerade den Deckel auflegen,, als er eine unheimliche Beobachtung machte: Die Eingesargte öffnete plötzlich den Mund und begann langsam zu atmen, dann bewegte sie sogar ein wenig die gefalteten Hände. M. ließ vor Schreck den Deckel fallen und rannte in die Wohnung: .Schnell, schnell! Sie lebt noch, sie lebt!' Dreißig Sekunden später wurde der Rettungswagen alarmiert."
Diese atemberaubende Schilderung stammt aus dem Buch "Scheintot begraben" von Claus E. Boetzkes, das soeben erschienen ist. Die schon eingesargte Frau ist Emma Sikorski aus Berlin, die am 12. März 1975 von einem Arzt für tot erklärt worden war, aber noch immer, jetzt vierundachtzig Jahre alt, in einem Berliner Heim für chronisch Kranke lebt. Emma Sikorski ist nicht die einzige, die dem Tod in letzter Sekunde noch einmal von der Schippe gesprungen ist.
Ein Student merkt, daß sie noch lebt
Auch Hamburg hat seinen Fall. Am 28. August 1965 gegen 10 Uhr ging Margarete K. ins Badezimmer, nahm ein Röhrchen mit Schlaftabletten aus dem Medikamentenschrank, löste 47 Tabletten in einem Glas mit Wasser auf und trank den Brei. Einpaar Stunden später wurde Margarete K. in ihrer Wohnung leblos auf dem Boden liegend gefunden und sofort mit einem Rettungswagen ins Eppendorfer Universitätskrankenhaus gefahren. "Soweit ich noch weiß", berichtete jetzt der Arzt, der sie damals in der Eingangshalle der Chirurgie untersuchte, "war die Frau ganz grau und fühlte sich kalt an. Ich habe ihr noch ins Auge geleuchtet, und da war kein Reflex mehr. Ich würde darauf schwören, daß sie damals tot war."
Im gerichtsärztlichen Dienst nahm ein fünfundzwanzigjähriger Medizinstudent die für tot erklärte Frau in Empfang. "Kurz bevor ich die Leiche in eine Kühlzelle schieben wollte, habe ich dann bemerkt, daß sie noch lebte", berichtete er, inzwischen praktischer Arzt- in einem kleinen Ort bei Hannover. Margarete K. lebt heute in Kiel.
Bei einem Scheintoten arbeiten nur noch minimalste Lebensfunktionen, er befindet sich im Zustand einer sogenannten "vita minima". Dabei ist der gesamte Lebensvorgang auf ein Mindestmaß reduziert, die Atemtätigkeit ganz schwach, der Herzschlag nicht einmal mehr mit dem Stethoskop auszumachen. Die Körpertemperatur sinkt ab und führt zu einer gewissen Erstarrung. ?Der gesamte Organismus ist auf Sparflamme geschaltet, ähnlich dem Winterschlaf bei manchen Tieren , schreibt Claus Boetzkes. Ein Scheintod kann zum Beispiel vorliegen nach einem Schlaganfall, schweren Unfall, durch Blitz- oder Stromschlag, Alkohol-, Rauschmittel- und Tablettenvergiftung. Drei Zeichen des sicheren Todes gilt es in jedem Falle zu beachten: die Totenstarre, Leichenflecken und die beginnende Auflösung des Gewebes, die Autolyse.
"Sterben und Totsein", so erläutert der Direktor des gerichtsmedizinischen Instituts der Hamburger Universität, Professor Dr. Werner Janssen, "sind kein punktueller Vorgang, sondern sie bilden zusammen eine von Fall zu Fall unterschiedlich lange zeitliche Phase." Professor Janssen übt noch heute Kritik an der Abschaffung der sogenannten Bezirks-Leichenschau, die es nur bestimmten Personen erlaubte, den Tod festzustellen und zu bescheinigen. Heute darf das jeder Arzt, und viele Mediziner sind damit überfordert. Die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin will sich verstärkt für die Wiedereinführung einer amtlichen Leichenschau einsetzen und dazu Personen gewinnen, die die Feststellung des Todes aus medizinischer Sicht beherrschen, die den rechtspflegerischen Sektor ausreichend beachten und die zudem auch unabhängig sind, also nicht in Konflikte kommen können wie ein Arzt, der den Tod eines Patienten bescheinigen soll, den' er viele Jahre behandelt hat.
Der Tübinger Gerichtsmediziner Professor Dr. Hans-Joachim Mallach erklärt freiweg: ?Wir haben im letzten Jahr insgesamt vier Fälle gesehen, bei denen der Tod fehlerhaft festgestellt worden ist. Einer der Fälle hat überlebt. Wenn man diese Frau seinerzeit ins Grab gelegt hätte,
dann hätte man damit rechnen müssen, daß sie wieder aufgewacht wäre."
Nach zwei Tagen wieder ausgegraben
Dieses Bekenntnis erinnert an den Fall des neunzehnjährigen Angelo Hays, der an einem hei- ßen Sommertag in seinem Heimatdorf St. Quentin des Chalais in Frankreich mit einem schweren Motorrad auf einer ölspur ins Schleudern kam, stürzte und dabei, so die Ärzte, tödlich verletzt wurde. Drei Tage später wurde er beerdigt. Die Versicherung jedoch, die an den Vater eine Lebensversicherungs-Summe von 200 000 Franc auszahlen sollte, wollte mehr über den Unfall wissen. Zwei Tage nach der Beerdigung und fünf Tage nach dem Unfall wurde der Sarg wieder ausgegraben. In Claus Boetzkes Buch heißt es dann weiter: "Zwei Männer hoben die Leiche heraus und trugen sie zum Sektionstisch. Als der Obduzent die Brust von Angelo Hays berührte, schreckte er zurück: .Mein Gott, der ist ja warm, der Mann lebt ja noch', schrie er." Angelo Hays ist mittlerweile sechzig Jahre alt, noch immer glücklich verheiratet und Vater einer erwachsenen Tochter.
Die Furcht, scheintot begraben zu werden, ist weiter verbreitet, als man annimmt. Der dänische Märchendichter Hans Christian Andersen legte jahrelang allabendlich einen Zettel auf seinen Nachttisch: "Ich bin nur scheintot." Ein Appell zur Gründlichkeit an diejenigen, die seinen Tod bescheinigen mußten. Die Geschichte kennt viele bekannte Menschen mit krankhafter Grabesangst, der Taphophobie. Schopenhauer, Nestroy, Arthur Schnitzler, Friedrich Hebbel und nicht zuletzt Friederike Kempner, Dichterin mit unfreiwilliger Komik, gehörten zu ihnen. Die Kempner reimte: "Sorglos aalen sich die Reichen, andern sind die Gelder knapp, und noch ungestorb'ne Leichen senkt zum Orkus man hinab. Wißt Ihr nicht, wie weh das tut, wenn man wach im Grabe ruht?"
Dies schreckliche Los zu verhindern, wurden die kuriosesten Rettungsapparate erfunden. Ein Münchener namens Mannhard baute 1851 Rettungsglocken, die 1868 sogar ein elektrisches Läutwerk erhielten. Das System: Dem Töten schob man auf die Mittelfinger jeder Hand je einen gefederten Messingring,, der über einen Seidenfaden mit einem gewichtbeschwerten Hebel verbunden war. Hätte sich ein Scheintoter bewegt, wäre der Hebel aus seiner Ruhelage geschnellt, hätte einen elektrischen Stromkreis geschlossen und damit einen Wecker im Wachraum ablaufen lassen.
Alarm über das Telefon im Sarg
Unermüdlich im Erfinden solcher Apparaturen war Richard Strauß aus Schweidnitz in Schlesien. Er erhielt am 19. März 1881 sogar ein Kaiserliches Patent mit der Nummer 16 349. Es handelte sich um einen Sarg mit Luftrohr und Glocke. Unter der Patent-Nummer 27 850 bot er später einen Speziaisargdeckel mit einer komplizierten Filteranlage an. Sie 'arbeitete "zum Zwecke der vollständigen Vernichtung der im Sarg sich entwickelnden schlechten Luft und ununterbrochener Zuführung reiner, durch Eis gekühlter und mit Desinfektionsstoffen geschwängerter frischer Luft in s das Innere des Sarges, um im Falle eines Scheintodes den Eingesargten mit Luft zu versehen."
Die polnischen Brüder Franz und Johann Skowronski fürchteten vor allem die bittere Kälte im Grab und reichten 1908 die "Grabkammer zur Verhütung des Erfrierens Scheintoter" beim Kaiserlichen Patentamt ein. 1913 wurde unter der Nummer 2 664 114 ein Leichenkontrollapparat von einem Friedrich Thieles registriert. Es handelte sich um ein zweieinhalb Meter langes, beleuchtetes Spiegelrohr, mit dem sich "die Leiche im Sarg für wissenschaftliche Zwecke oder zur Vermeidung von Scheintod bequem beobachten läßt".
Die Angst vor Scheintod ist bis heute unverändert groß. Im Staate New York haben sich bisher über 3000 Menschen dagegen absichern lassen. So haben reiche Amerikaner sich Telefonapparate in ihre Särge legen lassen, um Alarm geben zu können. Ein amerikanisches Beerdigungsinstitut entwickelte einen Sicherheitssarg mit Sauerstoffgerät: "Garantiert Atemluft für 72. Stunden."
Der Multimillionär John Dakkeney aus Tucson in Arizona ließ sich eine Gruft mit elektrisch betriebenen Stahltoren bauen, die sich in den ersten zwölf Wochen, nach seiner Beisetzung nachts für jeweils drei Stunden automatisch öffnen sollten, damit er, falls er wieder aufwachte, aus der Gruft gelangen könnte. Als er 1969 starb, versammelten sich nachts Hunderte von Neugierigen an der Gruft, um zu sehen, ob Dackeney erscheine. Er kam nicht. MAXCONRADT
Claus E. Boetzkes: Scheintot begraben. R. S. Schulz Verlag, 9,80 Mark.