Hoch gingen die Wogen der Begeisterung, und endlos dauerte der Premierenapplaus, als gestern György Ligetis Oper “Le Grand Macabre“ als deutsche Erstaufführung in der Staatsoper gezeigt wurde. Unverzagt hielt der strahlende Komponist den ersten drei Buh-Salven stand, danach erreichte ihn nur noch überschwenglicher Jubel. Und so wird es weitergehen: Italien, England und Frankreich ziehen nach. Und das alles vor dem Hamburg-Test. Denn die Skeptiker unter den Bühnenpraktikern hielten erst noch zurück: Mag auch der triumphale Stockholmer Uraufführungserfolg weltweit verbreitet worden sein, so erwartete die Fachwelt von der Hamburger Aufführung noch mehr: Eine Revision durch die Regie, eine Intensivierung und Präzisierung der musikalischen Interpretation.
Die Hoffnungen wurden weit übertroffen. Dirigent Elgar Howarth, Regisseur Gilbert Deflo und sein Bühnenbildner Eckehard Grübler sind mit beispielhafter Konsequenz neue Wege gegangen. Vor allem: Das Hamburger So- üstenensemble war phänomenal.
Ein Zirkuszelt ist aufgebaut Die Szene wird zur Manege. Im Glühbirnenrahmen, unter sternenglelch flimmernden Lämpchen, schleppen rote Clowns alle möglichen Requisiten herbei und spielen abräumend mit. Hinterm rotsamtenen Vorhang der Orchesterloge werden später die Posaunen des Jüngsten Gerichts blasen. Auch die Beleuchter auf Ihren Türmen machen mit bei diesem Splej im Spiel. Sie richten die Verfblgerscheinwerfer auf die Akteure und werden, in dem Moment zu Hauptdarstellern, wenn sie Gestirne kreisen lassen und das Blendlicht der Kometen in den Zuschauerraum schikken. Und die Holzkisten? Lauter Zauberschachteln: Sie werden als Grabkammer, Wöhnbude, Versteck oder Käfig benutzt. Die ganze Ausstattung ist funktionell, nichts steht da als bloße Dekoration.
Über dieses Zirkusmüieu gewinnt Deflo den Einstleg in Ligetis Vorstellungswelt. Auch der Komponist spiegelt ja Naivität vor, die künstlich gemacht ist, setzt auf Artistik und Slapstick-Komik, auf hintersinnige, clowneske Blödeleien, auf effektvolle Buntheit und unpsychologische Situationen. Die bilderbogenartig zusammengefaßte Handlung kann also hier als Nummernfolge einer Zirkusvorstellung umgesetzt werden.
Eheszene als Raubtiernummer
Verblüffendstes Beispiel dafür ist das zweite Bild, die berüchtigte sadomasochistische Eheszene. Trotz ihrer aggressiven Direktheit schockiert sie jetzt kaum mehr, weil sie sozusagen als Raubtiernummer aufgezogen ist: Tigerin peitscht Dompteur, ein Dressurakt mit umgekehrten Vorzeichen. Deborah Browne (Mescalina), eine üppige Furie von kaum zu bremsender Vitalität, macht aus diesem sich lustvoll exhibitionierenden Ungeheuer ein animalisches Superweib.
Das erste Bild trägt Peter Haage als Piet-vom-Faß fast allein: ein Papageno- Leporello-Sancho-Pansa-Typ, der in der Zirkus- Version nun als Dummer August Furore macht. Dennoch ist dieser Dickwanst mit der elektrifizierten Schnapsnase der einzige, dem es gelingt, in der allzu harmlosen Weltuntergangskomödie die kreatürllche Angst ins Spiel zu bringen. Sonst aber hat die unbändige Lust am übertrieben Grotesken, an total verrückten Situationen Ligeti dazu verleitet das Katastrophen-Spiel vom Ende der Zeiten nur auf der absurden Ebene abzuhandeln.
Erst beim dritten und vierten Hören kommt man dahinter, daß die kulinarische Fassade zu verlockend ist. Die vordergründigen Pointen sind es, die das pure Opern-Vergnügen hervorrufen, z. B. das Spielzeug-Instrumentarium aus Autohupen, Türklingeln, Wecker, Raschelpapier, oder die traditionellen Muster und verbogenen Zitat-Collagen, die man entdeckt, wenn man weiß wo. Und doch stellt sie der Komponist vor einen geradezu unheimlich tiefen Bildungshorizont, wenn er den Ghelderode-Stoff in die Welt Kafkas, Jarrys, Vians projiziert oder wenn er für seine Konstruktionspläne Parallelen zu Breughel, Bosch, Ensor und dem englischen Popart-Maler Blake aufzeigt. So jedenfalls interpretiert er sich selbst. In Details und optischen Zitaten hat der Regisseur auch hier eine Brücke bauen wollen.
Das musikalische Schwergewicht liegt im dritten Bild. Die Szene am Fürstenhof enthält die originellsten Erfindungen: das rhythmisierte Keif -Duett der beiden Minister (Edith Lang/Sona Cervena), die aberwitzige Stimmartistik für Koloratur-Sopran (Hildegard Uhrmacher) und Countertenor (Kevin Smith). In der Volksszene mit dem zu unendlichen Motivwiederholungen verdonnerten Chor, in dem quasi vom Computer gesteuerten Sauf-Terzett dem Klangfarbenspiel auskomponierter Lichtbrechungen oder dem parodierten Pathos für den konzertanten Einzug des Sensenmanns konnte man den unglaublich raffinierten, bewußt manieristischen Kompositionsstil Ligetis voll und ganz bewundern.
Ein blind-verzücktes Liebespaar
Imponierend trafen die Sänger den tiefgekühlten Expressionismus ihrer frei rhythmisierten, in weiten Intervallsprüngen oder x-mal wiederholten Silben ausefhandergezerrten Melodie-Linien. Das blind-verzückte Liebespaar (Inga Nielsen / Olive Fredricks) zerschmolz förmlich in Harmonien, Ude Krekow als surrealistischer Clown mit Philosophen-Touch beherrschte die Szene in jeder Situation. Dieter Weller als Großer Makabrer blieb zu lange die Comic-Figur des Beginns: Auch die Stimme hatte noch nicht die Kraft, ins dämonische Format zu wachsen.