hn. Lüchow, 18. November Die abenteuerliche Flucht des ostzonalen Binnen-Motorschiffs “Kurier“ aus Parey (Mark Brandenburg) findet seit gestern auf den Straßen Niedersachsens ihre Fortsetzung. Das 230 t große Schiff war, wie berichtet, am 13. Oktober mit vier Personen an Bord über die Oberelbe nach Gorleben bei Schnackenburg geflüchtet. Da die Weiterfahrt auf der Elbe in Richtung Hamburg wegen des Grenzverlaufs und der Volkspolizeikontrollen unmöglich war, mußte das Schiff in zwei Teile zerlegt und als Schwersttransport über Land gefahren werden.

Wieder einmal zwingt die unselige Zonengrenze zu Maßnahmen, die zu normalen Zeiten völlig unnötig wären. Ein Schiff muß in einem kleinen Hafen an der Oberelbe auseinandergenommen und über Land transportiert werden, damit man es ein paar Kilometer weiter elbabwärts wieder zusammensetzt. Der Weg von der Elbe zur Elbe führt also quer durch Niedersachsen!

Am Mittag des 13. Oktober sollte der Eigentümer des "Kurier", Otto Strube, sein Schiff zusammen mit einem Konvoi ostzonaler Binnenschiffe von Kumlosen, dem zonalen Grenzkontrollpunkt an der Oberelbe, elbabwärts zum mecklenburgischen Hafen Dömitz zusteuern. Das war für Strube, seine Frau und seinen Sohn sowie seinen Schwager Ernst Grothe die Gelegenheit, einen seit langem besprochenen Plan zu verwirklichen: die Flucht über die Zonengrenze in das westliche Deutschland.

Volle Fahrt voraus

Strube ließ die Maschine mit voller Kraft laufen und war den anderen Schiffen bald etwas voraus. Er paßte die richtige Minute ab, riß das Steuer herum ? und machte kurz darauf in Gorleben, vier Kilometer von Schnackenburg entfernt, fest.

Die Flucht war gelungen ? aber nur halb! Denn die Weiterfahrt elbabwärts war unmöglich, weil man dabei das Gebiet der Zone berührt hätte. So blieb nur der Landtransport. Strube setzte sich mit der Lauenburger Werft Heideiniann in Verbindung. In mühevoller Arbeit wurde der "Kurier" aufs Trockene gezogen und fachmännisch genau mittschiffs auseinandergeschnitten.

Die beiden Teile dichtete man mit Schotten ab, so daß sie schwimmfähig sind. Aber wie sollte man die mehr als 40 Tonnen schweren Teile befördern? Hier wußte die Bundesbahn Rat. Sie beorderte einen ihrer "Straßenroller", die für derartige Ladungen geeignet sind, nach Gorleben. Gestern morgen hatte man das 26 Meter lange Vorschiff auf dem Fahrzeug verstaut. Nachmittags setzte sich der ungewöhnliche Transport in Bewegung. Ganz Gorleben sah zu.

Wegen zu niedriger Brücken kann nicht die schnellste Straßenverbindung nach Hoopte bei Geesthacht, dem Ziel, benutzt werden. Die Bundesbahntechniker, die für die Straßenreise des "Kurier" verantwortlich sind, mußten sich also einen Weg ausdenken, der niedrige Brücken vermeidet und trotzdem feste Straßen bietet. Er geht von Gorleben über Gartow und Lüchow, an der Zonengrenze entlang über Clenze, dann nach Uelzen und von dort über Lüneburg und Winsen nach Hoopte. Zusammen über 140 Kilometer!

Sonderkommandos der Lüneburger Verkehrspolizei eskortieren den Transport, der sich mit höchstens sechs Kilometern in der Stunde vorwärts bewegen kann. Heute mittag wurde Lüchow im Schneckentempo passiert. Morgen mittag, so hofft man, wird Hoopte erreicht sein. Dort will man die Straßenroller bei Niedrigwasser an der Elbe auf eine zeitweise trocken liegende Straße setzen. Mit der Flut soll das Vorschiff zum Schwimmen gebracht werden. Am Donnerstag soll das schwerere Achterschiff mit der Maschine folgen. Spätestens Sonnabend werden, wenn alles gutgeht Vor- und Achterschiff nebeneinander bei Hoopte in der Elbe schwimmen.

In Lauenburg, so hat es Otto Strube vorgesehen, sollen die beiden "Kurier- Teile wieder eins werden. Für die Fahrt von Hoopte nach Lauenburg hat er sich eine besondere Attraktion ausgedacht, die es vermutlich auf der Elbe noch nicht gegeben hat: Er will auf dem Achterschiff mit eigener Kraft fahren und dabei das Vorschiff in Schlepp nehmen! Wenn das Glück der Schiffahrtsfamilie aus Parey weiterhin hold ist, können sie Weihnachten in einem vereinten -Kurier" feiern.