Der Tag ist nun wirklich zu Ende. Die Schlafenszeit ist da. Für viele eine Stunde des erquickenden Versinkens, für andere eine Stunde der Qual, da sie nicht den ersehnten Schlaf finden können. Wie aber sollten wir es halten, um die Nachtruhe zu einem dauernden Quell der Kraft und des Wohlbehagens für unser Leben werden zu lassen?
"Wann hast du dich am wohlsten gefühlt?" So habe ich viele Bekannte gefragt. Die meisten konnten auf Anhieb nichts sagen. Sie dachten nach. Und dann kam zögernd irgendeine Verlegenheitsantwort. Die gab Aufschluß: nämlich, daß wir dazu neigen, die guten Stunden und guten Jahre zu vergessen. In der Erinnerung bleiben die kleinen und großen Leiden. Selbst ein vom Schicksal so begnadeter Mensch wie Goethe bekannte, daß er sich kaum einen Tag seines Lebens restlos wohlgefühlt habe.
Ich kenne ein Gegenbeispiel. Das war mein Deutschlehrer, Professor Theodor Imme, eine Seele von einem Menschen, den wir ganz zu Unrecht in unserem jugendlichen Übermut durch unsere rohen Spaße peinigten. Den trafen wir jeden Mittag in der Badeanstalt. Er bekam eines Tages den "Waschlappenorden", weil er, abgesehen von den Ferien, 25 Jahre ohne einen einzigen Tag auszusetzen, zum Schwimmen gekommen war. Professor Imme gab trotz seiner siebzig Jahre noch Turnunterricht. Und als ihn ihn später einmal traf, sagte er mir:
"Das Baden mittags ist mein Vergnügen. Ernst nehme ich nur die fünf Minuten vor dem Zubettgehen. Dann mache ich bei offenem Fenster Frei- übungen. Nicht viel! Einige Rumpfbeugen, einige bewußte Atemzüge und eine kurze Selbstmassage, die überall hinkommt Dann bin ich aufgeräumt und frisch. Dann habe ich die Last des Tages abgeworfen. Dann lese ich noch ein paar Seiten. Und wenn ich mich dann umdrehe, schlafe ich auch schon. ? Seit ich es so halte, fühle ich mich wohl."
Eine Zeitlang habe ich nach dem Rezept dieses bis in sein höchstes Alter quicklebendigen Lehrers gehandelt. Und ü muß sagen, das Rezept war richtig.
Es ist nämlich ganz falsch, wenn man meint, zum Schlafen lange es immer noch. Gewiß, es gibt einen Grad der Ermüdung, der zwangsläufig zum todähnlichen Schlafen führt. Trotz aller Energie, sich wachzuhalten. Aber ein solcher Erschöpfungschlaf hat nichts mit dem erquickenden Hineinrutschen in den tiefen Brunnen der Nacht, bei dem das Einschlafen selbst ein wohliges, zauberhaftes, von Gefühlen und Gesichten umkränztes Abgleiten in das dunkle Unbekannte ist. Leider habe ich nicht durchgehalten.
Japan ist das Land, in dem es keine unartigen und nervösen Kinder gibt. Körperliche Strafen braucht man nie. Die Kinder wachsen auf, ohne ständig gegängelt zu werden. Man läßt sie gewähren. Aber gestaunt habe ich doch, wie viele Kinder bis in die späten Nachtstunden aufbleiben. Sie legen sich erst schlafen, wenn die Müdigkeit sie überwältigt. Das Versäumte wird nach der .Schule genau so selbstverständlich nachgeholt.
Bei uns gehen die großen Leute auf den Zehen, wenn Baby schließlich gnadig eingeschlafen ist, um es ja nur nicht wieder aufzuwecken. So wird mit dem Schlafen ein völlig unangemessener Kult getrieben. Und dadurch wird der Schlaf aus seinem natürlichen Zusammenhang und aus seiner Unbefangenheit herausgerissen. Die Folge: viele tausend Menschen kämpfen Nacht für Nacht um ihren Schlaf erbitterter als um das tägliche Brot.
Wir müssen noch einmal Goethe zitieren: "Schlaf ist Schale, wirf sie fort!" sagt er und trifft damit den Kern. Denn jede Minute, die unser Bewußtsein ausgeschaltet ist, steht in der Gesamtrechnung unseres Lebens auf der Minusseite. Man frißt Zeit, ohne etwas davon zu haben. Wie schön wäre es, wenn wir nicht müde würden, wenn wir Dinge, die uns fesseln, ohne die lästigen Schlafpausen durchführen, wenn wir ein Vergnügen bis in die Puppen ausdehnen könnten, ohne nachher verkatert zusein! Aber ohne Schlaf geht es nicht. Es bleibt uns also nichts übrig, als den Schlaf in die Unkosten des Lebens einzukalkulieren.
Schlaf ist immer noch das billigste Heilmittel und ein unerschöpflicher Kraftquell. Aber Schlaf ist kein Selbstzweck, und sein Leben verschlafen heißt, ein göttliches Geschenk ungenutzt im Kasten liegenlassen.
Es gibt Künstler und Virtuosen des Schlafes. Sie brauchen nur wenige Stunden. Und was noch wichtiger ist, sobald sie sich vornehmen, einzuschlafen, sind sie auch schon im Reich der Träume.
Diese Art des erholsamen, schnell wieder aufbauenden Schlafes kann man sich angewöhnen, wenn man durch längere Selbstbeobachtungen herausgebracht hat, wieviel Schlaf man wirklich braucht, um frisch zu sein und frisch zu bleiben. Dann kann man im Laufe eines Jahres viele Stunden kostbarster Zeit einsparen, ohne Schaden zu nehmen. Man muß allerdings sich davor hüten, das Mindestmaß zu unterschreiten.
Damit sind nicht die Lebensfrohen gemeint, die sich mit Spiel und Tanz gelegentlich, meinetwegen sogar jede Woche einmal, eine Nacht um die Ohren schlagen. Damit sind aber die gemeint, die den edlen Kaffee und den köstlichen Tee dazu mißbrauchen, sich ständig um das unerläßliche Schlafquantum zu betrügen und zu bestehlen. Sie sind schlecht gelaunt, sie sind nervös, sie sind die Anwärter auf quälende Schlaflosigkeit, Schlaftabletten, auf Herz-, Kreislauf- und Nervenleiden, und schließlich sogar auf den Manager-Tod, der sich keineswegs nur auf die eigentlichen Manager beschränkt.
Viel schlafen ? das gilt für die jungen Menschen, bei denen sich während des Schlafes die Wachstums- und Entwicklungsvorgänge vollziehen. Das muß man auch gelten lassen für die Armen, die von einem unseligen Geschick betroffen wurden und die Zeit totschlagen müssen ? wie wir alle im Krieg viel mehr Schlaf brauchten als im Frieden ? , wie Gefangene sich durch antrainierten' Dauerschlaf, über ihr Elend hinwegtrösten. Dann ist Schlaf segensreiche Flucht aus der Wirklichkeit.
Acht Regeln
1. Einschlafen. Je erquickender die Zeit unmittelbar vor dem Zubettgehen ist, um so schneller schläft man ein und um so besser schläft: man aus.
2. Es gibt keine für alle gültige Vorschrift, wie lange man schlafen soll. Jeder muß seinen Schlafbedarf ausprobieren, dann aber auch dem Gebot seiner Natur folgen. Keine Vorschrift richtet soviel Unheil an wie die von den acht Stunden, die angeblich für alle verbindlich sein sollen.
3. Die Redensart, daß der Schlaf vor Mitternacht der beste sei, ist genau so falsch und genau so richtig wie der Satz von der Morgenstunde, die Gold im Munde hat. Jeder muß nach seiner Fasson selig werden.
4. Das gleiche gilt für das Schlafen mit vollem Bauch. Dem einen benagt es, den andern plagt es.
5. Je bequemer man liegt, um so wohltuender ist der Schlaf. Bequem ? das braucht nicht ein Paradiesbett zu sein. Bequem, das kann auch heißen: blanke Bretter! Aber auch hier: eines schickt sich nicht für alle!
6. Schlafenbeioffen e m Fenster ist bis auf wenige, vom Arzt zu bestimmende Ausnahmen erholsamer als im geschlossenen Raum.
7. Ein zu warmes Bett ist immer noch besser als ein zu kaltes. Frieren verbraucht einen erheblichen Teil der durch den Schlaf gespendeten Erquickung und läßt meist die erforderliche Schlaftiefe nicht eintreten.
8. Man soll nie vergessen, daß man mehr als ein Drittel seines Lebens im Schlafzimmer zubringt. Das Schlafzimmer ist deshalb wichtiger als die beste Stube.
Ein Schlußartikel folgt.